Von adminZoZuBo ‒ 22. Mai 2015
Der Schriftsteller Reto Hänny wurde für sein neustes Werk «Blooms Schatten» mit dem Schillerpreis der ZKB ausgezeichnet. Die feierliche Übergabe findet am 22. Juni im Literaturhaus Zürich statt. Reto Hänny wohnt seit 30 Jahren in einem kleinen – teils selbstrenovierten – Haus in Zollikon.
Reto Hänny, 68, ist aus den bündnerischen Bergen aufgebrochen, sich die Welt zu erobern. Viel hat er gewagt, als sei es selbstverständlich, viel ist ihm gelungen, als müsse das so sein.
Dass er weiss, es hätte auch ganz anders kommen können, verleiht ihm gleichzeitig Flügel und Bodenhaftung. «Stets einer pro Generation wurde in unserer Verwandtschaft Pfarrer oder Lehrer», sagt er, «ich war dazu schon von klein auf gesetzt.» Obschon er nach einigen Lektionen beim Dorfpfarrer den Lateinunterricht verweigerte, half ihm dieser, dem prügelnden Dorflehrer zu entkommen und sein letztes Sekundarschuljahr in Chur zu vollenden, damit er für die ihm vorbestimmte Rolle gewappnet sein würde.
Chur war erst ein Schock. Seine Mitschüler lachten ihn seines Walserdialekts wegen aus. Doch sein neuer Sekundarlehrer, der rätoromanische Schriftsteller Cla Biert, wurde sein Förderer. Er erkannte das Erzähltalent des Berglers trotz «roten Diktatheften» sofort, empfahl ihm, beim Erzählen zu bleiben und die Legasthenie mit Viellesen zu therapieren.
Und so las Reto Hänny als Fünfzehnjähriger «Die Blechtrommel» von Günther Grass, den «Prozess» von Franz Kafka und «Ulysses» von James Joyce und war fortan der Literatur verfallen.
Den Ursprung seiner Erzählfreude aber macht Reto Hänny bei seinem Neni fest, dem Grossvater, der ihm beim Eindunkeln auf der Alp jeweils die schauerlichsten Alpensagen erzählte, um seine eigenen Ängste im Zaum zu halten.
Behütet und gefördert vom Neni, der Familie, später gefordert von Cla Biert und weiteren Lehrern an der Kantonsschule, machte sich Reto Hänny auf seinen Weg: Wurde erst Lehrer an einer Mehrklassenschule im Safiental, reiste im Renault 4 über Griechenland, die Türkei und Persien bis nach Afghanistan, später über Spanien und Marokko in die Sahara. Stets staunend und neugierig, stets offen. Und immer bereit, sich und die Welt zu hinterfragen und weiter zu lernen. Dass er Künstler werden wollte, war ihm sehr früh klar.
Sein Weg führte ihn als Bühnentechniker ans Theater Chur, Freundschaften öffneten ihm Künstlerateliers, an der Uni Zürich begann er 1973 Germanistik, Völkerkunde und Kunstgeschichte zu studieren. Da sich Studium und eigenes Schreiben für ihn auf die Dauer gegenseitig ausschlossen, verschrieb er sich dem zweiten. Denn unterdessen wusste er genau: Er wollte Schriftsteller werden.
Er wurde es mit Herz und Seele. Lange feilte er an seinem Erstling «Ruch», in dem er seine Theatererfahrungen verarbeitete, daraufhin schrieb er aus aktuellem Anlass, kurz und rasch «Zürich, Anfang September», wo er seine persönlichen, ihn erschütternden Erfahrungen festhielt: Fasziniert vom dadaistischen Ansatz der Jugendunruhen 1980, hatte er damals viel Zeit als Beobachter in den Strassen Zürichs verbracht, war dabei von der Polizei verprügelt, festgenommen und inhaftiert worden und hatte noch in U-Haft mit dem Schreiben begonnen.
Kurze Zeit darauf erhielt er ein Stipendium für ein Werkjahr in Berlin, welchem er gern folgte und gleich noch ein paar Jahre anhängte. Abstand zu Zürich war ihm mehr als recht. So entstand «Flug», sein ihm liebster Text, eine im weitesten Sinn fiktionale Biographie. Er handelt von einem Buben, der fliegen kann – um den Stubentisch im Bauernhaus – und dadurch hier und auch später immer wieder Abstürze, aber auch Höhenflüge erlebt. In «Flug» ist der Kern seines neuesten Buchs «Blooms Schatten» bereits als Schilderung der Leseerfahrung des Fünfzehnjährigen formuliert: «Ulysses» von Joyce in einem Satz zusammengefasst.
Nach «Flug» folgte wiederum eine literarische Reportage, zunächst ein Auftrag des Du-Hefts, dessen Text durch die Eindrücke einer Polenreise ein umfangreiches Buch «Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa» ergab. Ähnlich die Entstehung von «Helldunkel. Ein Bilderbuch», welches aus dem Katalogtext für eine Ausstellung des Fotokünstlers Hans Danuser in Chur entstand und für dessen zentralen Teil «Guai» er den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis bekam.
Hännys Tageslauf kennt keine Arbeits- oder Freizeiten. Auch wenn er anderes tut – handwerklich arbeitet, im Garten werkt oder sich mit Musik auseinandersetzt (er hört praktisch täglich rund zwei Stunden Musik, oft mit der Partitur in der Hand), Konzerte und Museen besucht, auf seine geliebten Berggipfel steigt oder auf dem Zolliker Balkon liest – stets beschäftigt er sich in Gedanken mit dem Schreiben. Sind dann aber alle Recherchen gemacht, die erste Fassung des Textes im Kopf und im Notizbuch, so verdichtet sich der eigentliche Schreibprozess wie einst im Gefängnis: Dann sitzt er täglich zehn bis vierzehn Stunden am Schreibgerät und lässt sich kaum Zeit zum Essen oder Schlafen. Er feilt an seinen Sätzen, bis aus Sprache Musik geworden ist, verdichtet seine handschriftlichen Notizen am Computer, prüft mit lauter Stimme den Klang und überarbeitet nach Diskussionen mit seinem Lektor oder anderen Personen, denen er seine Texte zeigt, einzelne Formulierungen.
So findet er seine eigene Sprache, ein Hochdeutsch, das er mit dialektalen Einsprengseln bereichert. Seine Lust an der Sprache und sein Wille zur perfekten Form sind dabei grenzenlos. Kein Wunder also, hat er für sein neustes Werk «Blooms Schatten» nun den Schillerpreis der ZKB erhalten. «Doch», sagt er, «oder zumindest eine völlig unerwartete und umso erfreulichere Überraschung!»
Seit der ersten Ulysses-Lektüre mit fünfzehn hat ihn die Idee beschäftigt, diese Dubliner Irrfahrten des Odysseus (engl. Ulysses) Leopold Bloom auf eigene Weise nachzuerzählen, und seiner Überzeugung, Literatur entstehe aus Literatur, dadurch eine neue Form zu geben.
«Immer wieder erzähle ich vom kleinen Hansli, der in die weite Welt zieht, um das Fürchten und Staunen zu lernen», sagt Reto Hänny, «denn genau dies ist Literatur: Jahrtausende alte menschliche Mythen, immer wieder neu zu erzählen und so die menschliche Erfahrungswelt zugänglich zu machen und für die eigene Zeit festzuhalten.»
Als Fünfzehnjähriger hat er das bereits erkannt, aber noch nicht auszudrücken vermocht. Heute kann er es. «Nicht durch mich allein», sagt er, «dank ein paar guten Lehrern, die zu wunderbaren Freunden wurden – und dem Luxus, ohne Existenznot die Zeit in erster Linie der Literatur widmen zu dürfen.» (db)
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