Von adminZoZuBo ‒ 2. September 2016
Die Zolliker Kantonsschülerin Caroline Beinhoff ging im Rahmen eines privaten Austauschsemesters für vier Monate nach China und ist seit Ende Juni wieder zurück – was sie zu berichten hat, ist mehr als eindrücklich.
Knapp 16 Jahre alt war Caroline Beinhoff, als sie das Flugzeug bestieg, um für volle vier Monate nach Zhengzhou zu reisen, um dort zu leben. «Wenn ich vorher gewusst hätte, wie es dort sein würde, wäre ich sicher nicht gegangen – nicht, weil es so schlimm war, aber weil ich mir das alles nicht zugetraut hätte!», lacht die junge Frau und ihre Augen funkeln schelmisch. Sie habe während des Fluges nach Shanghai gar nicht darüber nachdenken wollen, weshalb sie nach China – und nicht wie all ihre Schulkolleginnen, die auch ein Austauschsemester machten – in die USA ging. Ihre Mutter, in der Slowakei geboren, wollte, dass sie und ihr jüngerer Bruder Frustrationstoleranz lernten. Lernten, dass es nicht selbstverständlich ist, so zu leben, wie es ihnen vergönnt ist. Caroline Beinhoff lebt seit elf Jahren in Zollikon und wusste schon immer, dass sie ein Semester im Ausland würde absolvieren wollen – und es war ihr auch klar, dass wenn sie eine Sprache wirklich würde lernen wollen, sie dafür in dieses Land müsse. «Meine Mutter hat leer geschluckt, als ich ihr gesagt habe, dass ich nach China gehen wolle.» Doch dann begannen sie, gleich zuhause schon etwas Mandarin zu lernen. Während fünf Jahren besuchte sie immer wieder mal einen Chinesisch-Kurs, doch da kurz vor ihrem Abflug auch noch Zeugnisabgabe war, blieb ihr wenig Zeit fürs intensive Repetieren.
Asien generell und insbesondere China kannte Caroline Beinhoff von einigen Reisen mit ihrer Familie. Sie wusste, wie überfüllt und geschäftig alles immer war, wie dreckig es sein konnte, «jedoch ist es etwas ganz anderes, ein ‚richtiges chinesisches Leben‘ zu führen als als Touristin das Land zu bereisen.» Sie wurde einer Gastfamilie in Zhengzhou, in der Provinz Henan, zugeteilt. Die 10-Millionen-Stadt gilt in China als Dorf. Unter der Woche lebte die Schweizer Schülerin auf dem Schulcampus, am Wochenende nahm sie den Bus, um zu ihrer Gastfamilie zurückzukehren. Mehrere Male sei sie auf dem Nachhauseweg falsch umgestiegen und zwei Stunden zu spät nach Hause gekommen. Die Gastschwester, 20 Jahre alt, studiert an einer Uni, der Gastvater war nur an einem Tag am Wochenende zuhause, da er in einer anderen Stadt arbeitete und einen langen Arbeitsweg hatte. Auf dem Campus war ihr Zuhause ein Etagenbett und circa vier Quadratmeter Platz in einem Zimmer im «international students dormitory». Ihre beiden Zimmergenossinnen kamen aus den USA und aus Neuseeland. «Ich sprach mit Abstand am schlechtesten Chinesisch und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie um alles in der Welt ich mich anfangs verständigen sollte.» Sich zu verständigen lernte sie schnell. Und sich den anderen Umständen anzupassen ebenfalls. 65 Schülerinnen und Schüler umfasste eine Klasse. «Aber es war viel ruhiger als in jeder Zürcher Schulklasse», erzählt sie. Mobiltelefone waren auf der ganzen Schulanlage nicht erlaubt (ausser für die Austauschstudenten), einen Freund oder eine Freundin zu haben, ebenfalls nicht, Rauchen war auch verboten. «Einmal wurde ein Schüler beim Rauchen erwischt, die Konsequenz war, dass der Lehrer weniger Gehalt erhielt und darauf den Schüler vor versammelter Klasse arg abkanzelte. Das wäre bei uns schlicht unvorstellbar.» Chinesische Schülerinnen und Schüler haben praktisch kein Sozialleben. Sie lernen, gehen zur Schule und lernen wieder. Caroline Beinhoff hatte einen eigenen Stundenplan, sie lernte Chinesisch, während ihre Klassenkameraden den üblichen Schulstoff lernten. Am Freitag hatten sie jeweils Klassenstunde. Es wurden Filme gezeigt, die sie zu noch mehr Lernen ermutigen sollten.
«Die Schulbänke waren sehr klein und die Schülerinnen und Schüler haben auf dem Tisch ihre Hefte und Bücher aufgereiht, um dahinter unbeachtet schlafen zu können.» Der Stundenplan der Chinesinnen und Chinesen ist äusserst befrachtet: Die Schule dauert von 7 bis 21.45 Uhr, vor- und nachher wird immer noch gelernt und zwei Stunden sind für die Mittagspause eingeplant. «Aber niemand macht zwei Stunden Mittag, das Essen wird heruntergeschlungen und danach beginnt das Vorbereiten auf die erste Nachmittagsstunde.» Das mit dem Essen war auch so eine Sache: Caroline Beinhoff erzählt eindrücklich vom chinesischen Prinzip, nur so viel zu essen, dass man zu 70 % gesättigt ist. «Man verspürt permanent leichten Hunger und das Essen ist sehr eintönig. Es gibt immer etwas mit Fleisch, wobei man sich unter Fleisch nicht unser Qualitätsfleisch vorstellen darf, dazu Nudeln oder Reis und etwas Gemüse. Dieses Gericht variiert insofern, als dass es verschiedene Zubereitungsarten gibt, es wird frittiert, angebraten, gekocht – aber das Menu ist eigentlich meist das Gleiche.» Die Schülerinnen und Schüler essen an langen Stahltischen, alle sitzen sie dort in ihren Schuluniformen, die zu tragen obligatorisch sind. «Wenn sie etwas nicht essen können, zum Beispiel einen Fleischknorpel, spucken sie diesen einfach auf den Tisch – daran musste ich mich echt gewöhnen», so die 16-Jährige, die vegan lebt. In China sei es schwierig, sich vegan zu ernähren, denn es würden viel Milch und Joghurtgetränke getrunken, die Qualität von Obst und Gemüse sei in der Industriestadt zudem sehr schlecht. Fleisch habe sie keines gegessen, sie habe dieses einfach zur Seite gelegt. Laut essen, schmatzen und geräuschvoll schlürfen lernte sie ebenfalls. Alles andere wäre unhöflich gewesen. Das sei übrigens auch noch eine lustige Anekdote, als sie das erste Mal nach ihrer Rückkehr wieder zuhause mit ihrer Familie gegessen habe, habe der erste Satz am Tisch gelautet: «Wir sind hier nicht in China.» Caroline Beinhoff muss lachen. Überdies sei Zhengzhou eine der «schärfsten» Städte Chinas – es werde richtig scharf gegessen.
An einem Sonntagabend, es war bereits spät, kam ihre Lehrerin auf ihr Zimmer. Eine von Caroline Beinhoffs Mitschülerinnen reiste tags darauf ab und war dabei, zu packen. Die Lehrerin fragte die beiden anderen jungen Frauen, weshalb sie denn nicht auch packen würden. Caroline gab zur Antwort, dass sie ja noch blieben. «Aber nein», meinte die Lehrerin, «ihr werdet morgen früh ins Militärcamp verlegt und müsst um vier Uhr aufstehen, ihr solltet also auch packen.» Schnell fing sie an zu packen und rief ihre Mutter an, um sie darüber zu informieren, dass sie in den nächsten drei Tagen nicht erreichbar sein würde. Obschon Google und Facebook in China gesperrt sind, bestand für die Austauschschülerinnen die Möglichkeit, mit der Schweizer Sim-Karte den Messengerdienst Whatsapp zu benutzen. Dies erleichterte den Kontakt ungemein, Fotos konnten hin und her geschickt und es konnte telefoniert werden.Die folgenden drei Tage wird Caroline Beinhoff wohl nie vergessen. «Ich habe nicht gedacht, dass ich das überleben werde!» Das Camp war dazu gedacht, das Durchhaltevermögen der Schülerinnen und Schüler zu testen und zu verbessern. So standen sie beispielsweise eine volle Stunde an der prallen Mittagssonne, den Arm ausgestreckt, auf der Hand einen Bleistift balancierend. Ziel war es, den Bleistift nicht herunterfallen zu lassen. «Bereits nach zehn Minuten hatte ich das Gefühl, mir würde der Arm abfallen.» Unter dem Bleistift eingeklemmt waren kleine Zettelchen, auf denen die Schülerinnen und Schüler ihre Wünsche notieren mussten. Wann immer der Bleistift herunterfiel, kamen die Aufseher und entfernten einer dieser Wunschzettel, was für die Chinesinnen und Chinesen einer kleinen Tragödie gleichkam. «Aber es ist erstaunlich, sie empfanden dieses Camp nicht als Demütigung oder als Qual, für sie war es eine Herausforderung, der sie sich noch so gerne stellten, das habe ich sehr überrascht realisiert», erzählt Caroline Beinhoff. Gekocht wurde in einem behelfsmässigen Zelt, die Nahrungsmittel in einem Mauerloch gekühlt. «Wenn sich mir die Möglichkeit geboten hätte, wäre ich wohl nach Hause gerannt!»
In jeder 10-Uhr-Pause mussten sämtliche über 1000 Schülerinnen und Schüler auf dem Schulplatz joggen. «Nur wenn der Smog ganz schlimm war, durften wir nicht raus. Meine Lunge hat bereits nach wenigen Minuten zu brennen begonnen, die Kleider haben sich immer so schnell verfärbt von all der verschmutzten Luft.» Sie habe schnell gelernt, nichts Helles mehr anzuziehen. «Der Smog war das eine, das andere war die Hitze, die sich unter dieser Smogglocke staute. Wir hatten locker 42 bis 43 Grad. Und wenn es denn einmal regnete, dann gab es wegen der schlechten Kanalisation gleich Überschwemmungen.» Eines Tages dann erhielt die Stadt hochrangigen Staatsbesuch. Dafür wurden sämtliche Industrieanlagen abgestellt: «Und nach zwei Tagen konnten wir den Himmel sehen, wir konnten sehen, dass tatsächlich eine Sonne existiert!» «Vor China», erzählt Caroline Beinhoff weiter, «habe ich tief schlafen können. Jetzt fällt mir das schwerer, ich bin immer irgendwie in Alarmbereitschaft. Ich könnte jederzeit sofort aufstehen und die Füsse so hinstellen, wie wir es im Camp Stunde um Stunde geübt habe. Auch die Marschmusik höre ich immer noch in meinem inneren Ohr», lacht sie.
Man könnte Caroline Beinhoff Stunde um Stunde zuhören. Ihren Erzählungen lauschen und dabei staunen, wie sie es geschafft hat, so aufgeweckt und optimistisch zu bleiben. Sie sieht diese einschneidenden Erfahrungen als positiv an. «Ich weiss es wirklich sehr zu schätzen, was wir hier zu Hause alles haben. Den Wald im Zollikerberg, genügend zu essen, frisches Wasser. Ich muss mich hier nicht um mein «nacktes Überleben» kümmern, muss mir keine Gedanken machen, wann ich das nächste Mal genügend Essen erhalten werde.» In ihrer Schule und auch im Militärcamp gab es Rinnen-WCs: 200 Mädchen teilten sich ein WC, das einmal pro Tag durchgespült wurde. «Einmal pro Tag, das muss man sich einmal vorstellen – der Gestank ist jenseits des Vorstellbaren.» Die Austauschschülerinnen hatten Glück und ein eigenes Bad, wobei auch dieses einen wesentlich primitiveren Standard aufwies, als sie es sich gewohnt waren. Ihr WC war von Anfang an kaputt, immer verstopft, lief aus, überschwemmte den gesamten Boden, drohte, ins Zimmer überzulaufen. Die drei Mädchen versuchten anfangs noch, das WC zu reinigen: «Das haben wir sehr schnell aufgegeben, wir haben realisiert, dass das überhaupt nichts bringt.» Es sei sowieso unglaublich, wie schnell sie sich an alles gewöhnt habe. «Dinge, die mich anfangs so gestört haben, waren nach wenigen Wochen absolut normal für mich.» Caroline Beinhoff ist die Anpassung, das Kennenlernen einer so fremden Kultur bewundernswert gut gelungen. Sie hat das chinesische Leben gelebt, als Teilnehmerin und nicht als Beobachterin, und hat für sich die positiven Aspekte mitgenommen. Das, was sie alles gelernt hat, der andere Blick auf eine so völlig andere Welt. Sie hat sich damit arrangiert, dass sie in diesen vier Monaten nicht einen einzigen Augenblick alleine war – es gab immer und überall so viele Menschen. Dass die Chinesen und Chinesinnen ihr anfangs ungefragt in ihr blondes Haar fassten und ungeniert Bilder von ihr machten. Dass für sie als Ausländerin die Ware einfach doppelt so teuer war. «Das habe ich schnell gelernt und mir gar nichts mehr vormachen lassen. Wenn jemand vor mir in der Schlange für sein Wasser nur einen Yuan bezahlt hatte und ich hätte zwei bezahlen müssen, habe ich protestiert. Ich musste auch lernen, Prioritäten zu setzen, mich nicht aufzuregen.» Für sie ist es jetzt schwer zu verstehen, worüber sich Schweizerinnen und Schweizer alles beschweren. Hat sie nie eine richtige Krise gehabt in diesen vier Monaten? «Nein», lautet die Antwort wie aus der Pistole geschossen, «ich konnte ja eh nichts ändern und es war, wie es war.» Manchmal habe sie selber gestaunt, wie sie mit so vielen Menschen einer so anderen Kultur auf derart kleinstem Raum umgehen konnte.
Seit zwei Monaten ist sie wieder zurück. Zuhause bei ihren Eltern und ihrem 13-jährigen Bruder. Nun heisst es erst einmal, die Matur zu machen. Doch das wird bei Caroline kein grosses Problem sein, in der Schule hatte sie nie Schwierigkeiten. Sie spricht nun nebst Deutsch, Englisch, Slowakisch und Französisch auch Chinesisch. Ihr Vokabular umfasst rund 600 Zeichen, sie kann sich sehr gut verständigen. «Ich werde die Sprache weiterhin üben, Filme auf Chinesisch mit englischem Untertitel schauen und mit meinen chinesischen Freunden weiterhin auf Chinesisch schreiben.» Denn: Caroline möchte wieder zurück. Nach der Matur will sie ein Zwischenjahr machen, wieder nach Zhengzhou reisen und dort alle treffen. Bis dahin wird sie sich weiterhin der Schule widmen, den Wald und das Grün geniessen und ihre Freunde treffen. In China hat sie begonnen, die «Erhu», ein geigenartiges Instrument mit zwei Saiten, zu spielen, zuhause wird sie sich wieder – wie sie das bereits seit 12 Jahren tut – dem Klavierspiel zuwenden. Caroline Beinhoff ist eine äusserst beeindruckende junge Frau, die bereits mit 16 Jahren so vieles erlebt hat, über das es sich zu berichten lohnt. Man würde sich wünschen, sie würde ihre Erfahrungen in absehbarer Zeit vielleicht in einem Buch publizieren? «Meine Mutter hat mir schon einige Male vorgeschlagen, über meine China-Zeit ein Buch zu schreiben.» Das gäbe mit Sicherheit ein äusserst spannendes und lehrreiches Werk. (ft)
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