36/2018 «Alle Menschen sollten eine Art Diakon sein»

Von adminZoZuBo ‒ 6. September 2018

«Alle Menschen sollten eine Art Diakon sein»

25 Jahre lang hat Alex Kohli als Sozialdiakon der Kirchgemeinde Zollikon Hilfesuchende unterstützt, mit neuen Ideen die Unternehmungslust von Seniorinnen und Senioren geweckt und die vielen Freiwilligen betreut. Ende September wird er pensioniert.

Auf seinem Holzboot mitten im Greifensee kann Alex Kohli vom Alltag abschalten. Doch nur selten hat der Sozialdiakon der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Zollikon Zeit gefunden, übers Wasser zu rudern. «Nach meiner Pensionierung Ende September werde ich etwas häufiger an den Greifensee fahren können», sagt er mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Denn der Abschied von der Diakonie fällt ihm nicht einfach. 25 Jahre lang unterstützte er hier hilfesuchende Mitmenschen und die vielen Freiwilligen, die sich in der Kirchgemeinde engagieren. «25 Jahre sind eine lange Zeit – und plötzlich ist diese um. Ich habe mit sehr vielen Menschen Gespräche geführt und unzählige schöne, aber auch traurige Begegnungen erlebt. Meine Tätigkeit als Diakon war ein wichtiger Teil meines Lebens», betont der 63-Jährige. Gerne erinnert er sich zurück, beispielsweise an den Sommer 2016, in dem im Kirchgemeindehaus die Asylsuchenden aus dem Durchgangszentrum ein- und ausgingen: «Nachdem ich einen Aufruf in dieser Zeitung gemacht hatte, erhielt ich kurz danach um die hundert Kontaktdaten von Personen, die sich als Freiwillige zur Verfügung stellten – sei es für den Deutschunterricht oder zur Betreuung der Asylsuchenden. Mit einem solchen Engagement hatte ich nicht gerechnet», so der Diakon. Er erinnert sich auch an Menschen, die es in ihrem Leben sehr schwer hatten, dann aber wieder neue Kraft und dadurch neue Selbständigkeit gewinnen konnten. «Solche Erlebnisse geben auch mir Kraft», ergänzt er.

Früher Tod der Eltern

Sein Interesse an Mitmenschen und an der Theologie ist aus seiner eigenen Lebensgeschichte heraus gewachsen: Als Neunjähriger verlor er seine Mutter. Drei Jahre später starb auch der Vater. «Die Frage nach dem Warum beschäftigte mich intensiv. Als Jugendlicher las ich Bücher über psychologische und philosophische Themen», erzählt Alex Kohli. Er engagierte sich in der Jungen Kirche in Baden, wo er in der Nähe bei seiner Tante und seinem Onkel aufwuchs, leitete dort Jugendgruppen oder half in Arbeitsgruppen mit. «Die dortige Tätigkeit – beispielsweise mit vietnamesischen Flüchtlingen – sagte mir zu.» Der junge Alex Kohli interessierte sich jedoch nicht nur für soziale Themen. Aufgrund seiner technischen und mathematischen Begabungen verbrachte er seine Freizeit auch gerne mit Tüfteleien an Geräten und entschied sich später, einen technischen Beruf zu erlernen. Er arbeitete eine Zeit lang als Physiklaborant und absolvierte zudem an der technischen Lehranstalt HTL in Brugg-Windisch – heute bekannt als Hochschule für Technik FHNW – eine Zweitausbildung als Elektroingenieur. «Meine damaligen Tätigkeiten waren herausfordernd und spannend. Ich merkte jedoch, dass dies nicht die Aufgaben sind, denen ich mein ganzes Berufsleben widmen wollte. Die enge Zusammenarbeit mit Menschen hat mir gefehlt». Alex Kohli begann, soziale und theologische Ausbildungsangebote zu recherchieren, und stiess auf die Diakonenschule in Greifensee. «Die dortige Kombination von Sozialarbeit und theologischen Fächern entsprach mir. Zu dieser dreijährigen Ausbildung hat mich zudem ein Buch über französische Arbeiterpriester inspiriert. Diese liessen sich in den 1940er Jahren in Fabriken anstellen, um durch ihre Mitarbeit an den Maschinen den Arbeiterinnen und Arbeitern nahe zu sein – auch bei Sorgen. Wortwörtlich ‹im Schweisse unseres Angesichts›», schmunzelt Alex Kohli. Diese Nähe zu den Mitmenschen war für ihn auch ausschlaggebend, eine Karriere als Diakon und nicht als Pfarrer einzuschlagen, der in damaligen Zeiten in der Wahrnehmung vieler Menschen noch als eine fast überhöhte, wenig greifbare Gestalt galt. «Als Diakon bin ich zudem weniger eingebunden als ein Pfarrer, der mit vielen Amtshandlungen wie Gottesdiensten, Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen beschäftigt ist. Ich kann spontan eine hilfesuchende Person, die bei mir vor der Bürotür steht, in Empfang nehmen, Besuche in einem Pflegeheim machen und mich um die Organisation einer neuen Veranstaltung kümmern», erklärt Alex Kohli.

Engagement für Ältere

Seine erste Stelle als Diakon trat er in der Kirchgemeinde Köniz in Bern an. Während der sechsjährigen Tätigkeit betreute er Kinderlager und Konfirmanden und organisierte Ferien für Seniorinnen und Senioren. In dieser Zeit ist ihm bewusst geworden, wie sehr ihm der Umgang mit älteren Menschen liegt und deren Lebenserfahrung ihn interessiert. «Als Zollikon vor 25 Jahren die Stelle eines Diakons für seine Seniorinnen und Senioren ausgeschrieben hat, habe ich mich sofort gemeldet», erläutert Alex Kohli seinen Stellenwechsel und den Umzug mit seiner Familie an den Zürichsee. Mit Freude stürzte er sich in die Arbeit, half die Erwachsenenbildung weiterzuentwickeln und wurde durch seinen Ideenreichtum für neue Angebote bekannt. «Die menschlichen Probleme haben sich in all den Jahren nicht grundlegend verändert. Neu ist jedoch, dass wir in der Kirche die Möglichkeit haben, verschiedene Themen professioneller anzugehen, indem wir mit verschieden­sten Institutionen und Experten aus Sozialarbeit oder Psychiatrie enger zusammenarbeiten», erklärt Alex Kohli. Besonders am Herzen liegen ihm die Themen der Vereinsamung und der Integration: «In Gemeinden wie Zollikon leben viele ältere Menschen alleine zuhause. Damit besteht die Gefahr der Vereinsamung. Kirche und Gesellschaft sind gefordert, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Deshalb liegt mir viel daran, Zeit für Gespräche zu haben und Veranstaltungen, die den Austausch unter Senioren fördern, anzubieten.» Ebenso möchte er Menschen, die aus irgendeinem Grund an den Rand unserer Gesellschaft geraten sind, mit Hilfe von Kursen und Veranstaltungen wieder integrieren. «Mein Hauptanliegen ist simpel. Nicht nur ich sollte als Diakon wirken, sondern alle Menschen sollten eine Art Diakon sein. Denn der Mensch ist nicht perfekt, und irgendwann im Leben sind wir alle einmal auf Hilfe angewiesen. Das muss uns wieder bewusst werden», betont Alex Kohli.

Momente aushalten können

Woher holt sich ein Mensch, der sich so stark für andere Menschen einsetzt, Kraft? «Die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, geben mir Mut und positive Energie. Auch schöne Begegnungen mit Mitmenschen haben diese Wirkung. Zudem ist der Glaube wichtig: Es ist eine Kraft da, die mich trägt», weiss Alex Kohli, der an seinem neuen Wohnort in Uster gerne regelmässig die Kirche besucht. «Ich empfinde den Glauben als Hilfe. In technischen Berufen gibt es immer eine Lösung. Geht es aber um Menschen, gibt es oft Situationen, in denen nicht sofort eine Lösung da ist. Solche Momente muss man aushalten können. Dann bin ich froh, wenn ich Gedanken bei Gott abladen darf und mir nicht die ganze Nacht den Kopf zerbrechen muss», erzählt Alex Kohli. Während seiner Karriere habe er gelernt, ein Stück weit auch Sorge zu sich selbst zu tragen und sich einen Ausgleich in der Freizeit zu suchen. Nach der Pensionierung freut er sich nun darauf, mehr Zeit für die Familie zu haben, etwas mehr als früher mit dem Velo durch die Natur zu fahren oder eben in sein Ruderboot am Greifensee zu steigen. (mpe)

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