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20/2019 Eine wahre Warenfundgrube

Von adminZoZuBo ‒ 16. Mai 2019

Eine wahre Warenfundgrube

Auch wenn die Regale zum Schluss schon sehr leer waren, Mike Spescha wartete weiter auf Kundschaft. Was nicht verkauft wurde, ist gespendet worden. (Bild: bms)

Vergangene Woche ging eine Ära zu Ende: Mike Spescha schloss zum letzten Mal die Türen seiner Papeterie und damit des Nachrichtenumschlagplatzes im Zollikerberg.

Die gute Nachricht zuerst: Mike Spescha wird weiterhin zwei Mal im Jahr – am 1. August und am Silvester – vor seinem Geschäft Raketen und Böller verkaufen. Das Geschäft mit dem Feuerwerk lief immer gut. Der Rest nicht mehr, und deswegen ist seine Papeterie seit vergangenem Montag geschlossen. Für immer. 32 Jahre war das Geschäft eine wahre Warenfundgrube. Natürlich gab es alles rund ums Papier: Hefte, Ordner, Stifte, Postkarten. Aber im Laufe der Jahre kam immer mehr dazu: Spielzeug, Modellbausets, ­Zigaretten, Bonbons oder auch ­Batterien für die stehen gebliebene Uhr. Doch die Papeterie an der Forchstrasse war auch Umschlagplatz für Gerüchte, Familiengeschichten, neueste Nachrichten. Wenn die Glocke an der Tür bimmelte, kam nicht in erster Linie ein Kunde, sondern ein Gesprächspartner. Vor allem ältere Kunden, die nicht mehr viele Zuhörer haben, freuten sich über den Plausch «beim Spescha». Der 67-Jährige hatte immer ein offenes Ohr, ein tröstendes Wort oder einen aufmunternden Witz. Er wird den Menschen fehlen. Und er wird sie vermissen. Eine kleine Wolke zieht kurz über sein Gesicht. «Ich weiss noch gar nicht, wie ich die Zeit füllen werde.» Zeit zu füllen ist er nicht gewöhnt. 32 Jahre gab es keine richtigen Ferien. Im besten Fall mal einen Wochenendtrip nach Wien oder Berlin. «Irgendwo am Strand rumzuliegen, ist nicht meins. Ich bin ein Unruheherd», lacht er.

Millimeterpapier en masse

Die Regale sind in der letzten Woche schon gut geleert worden. Bastelpapier hat es noch und Couverts, Kinderspielzeug und Postkarten. Ganz unten liegt noch ein dicker Berg Millimeterpapier. Erinnerungen schiessen hoch. Bei jedem meiner zahlreichen Umzüge hat mein Vater mich genötigt, die Wohnung auszumessen und massstabsgetreu aufzuzeichnen. Anschliessend ­wurde am Mobiliar Mass genommen, damit es aufgemalt und ausgeschnitten werden konnte! Ein anderes Jahrtausend. Auch der Kopierer neben der Kasse wirkt antik. Wer heute etwas kopieren will, macht mit dem Smartphone ein Foto. Fertig. Postkarten, Briefpapier? Heute gibt es WhatsApp und SMS. Zeitschriften? Steht doch alles online im Internet. «Die letzten fünf Jahre waren ein reines Hobby», gibt Mike Spescha unumwunden zu. ­Finanziell gelohnt habe es sich nicht mehr. Spätestens seitdem die sieben Grosskunden – zuletzt auch die ­Gemeinde Zollikon – ihn von der Lieferantenliste strichen, war das Ende absehbar. Erstaunlich genug, dass Mike Spescha überhaupt das Geschäft der Eltern übernahm. Er hatte 1973 eine Ausbildung in der elektronischen Datenverarbeitung abgeschlossen und arbeitete 13 Jahre bei einer Grossbank. Er wusste, dass die Eltern gerne kürzertreten wollten und den Laden nur zu gerne an den Sohn weitergeben würden. «Aber eigentlich hat mein Vater mir abgeraten.» Gegen die vernunftsmässigen Argumente wie «Mehr Arbeit, weniger Lohn» entschied sich der Programmierer dann doch für die Papeterie. «Ich wollte gerne mein eigener Chef sein.» Die Eltern konnten sich mehr und mehr zurückziehen, der Vater widmete sich seiner Schneckenzucht. Immerhin konnte der Sohn auch das Haus und weitere Immobilien übernehmen.

Eine Seele von Mensch

Er strahlt ein bisschen mehr als sonst, wenn er von den Eltern spricht – vor allem von der Mutter. «Sie war eine Seele von Mensch», unterstreicht er. Immer ein gutes Wort, ein Lächeln auf den Lippen. Als eine Frau einen ganzen Stapel Zeitschriften stahl, rannte sie ihr hinterher, kam dann aber mit leeren Händen zurück. «Sie hat der Frau gesagt, sie möge die Zeitschriften doch bitte vorsichtig lesen und dann einfach zurückbringen», erinnert er sich. Natürlich wurde auch unter der Ägide von Mike Spescha das eine oder andere einfach eingesteckt. Eine Anzeige machte er nie. Er regelte das lieber direkt im Gespräch mit dem Sünder. Doch es gab auch wirklich düstere Stunden im Leben von Mike Spescha. Der viel zu frühe Tod der Schwester, die im Urlaub ertrank. «Meine Mutter hat vorher viel gesungen, hat immer ein Liedchen geträllert. Danach nie wieder.» Vor kurzem verstarb auch der Bruder. Gemeinsam hatten sie eine «Datscha» am Tennisplatz Zollikerberg. «Das war direkt um die Ecke und man fühlte sich trotzdem wie in den Bergen.» Mittlerweile gehe er nicht mehr dahin. Zu viele Erinnerungen in allen Ecken. Themawechsel.

Wenn die letzte Ware, die letzten Regale abgebaut sind, wird in den Räumen der Papeterie aufwendig renoviert: Hier richtet sich Mike Spescha eine Wohnung ein. Das moderne Bad ist schon fertig. Schmutzig und laut wird es wohl, wenn der Durchbruch zum grossen Garten erfolgt. Auf jeden Fall wird er in seinem neuen Wohnzimmer reichlich Platz für eines seiner Hobbys haben: das Tanzen. Bis jetzt waren es vor allem Standard und Latein, jetzt möchte er sich dem Tango Argentino intensiver widmen. «Ich habe schon immer gerne getanzt und dazu auch in meinen Clubs angeregt», erzählt er. Nach und nach kommt es raus: Mike ­Spescha war auch schon Clubbetreiber. Erst in Dübendorf, dann in Bülach hatte er einen Raum gemietet, um am Samstagabend zur Party zu ­laden. «Ich sitze nicht gerne in anonymen Bars rum.» Er sorgte für alte Sofas, für einen Billardtisch, reichlich Musik – erst Vinyl, dann CDs. Der Traum eines jeden Kellerbar-Besitzers – nur eben in XL. Alte Fotos kommen auf den Tisch und erzählen von den Modesünden der 90er-Jahre und der Ausgelassenheit der Abende. Aber irgendwann war es vorbei. Die Leute heirateten, bekamen Kinder, blieben am Samstagabend aus. Das erzählt Mike Spescha nicht verbittert, sondern ganz sachlich. Die Türglocke bimmelt wieder, ein Kunde möchte Bestellungen abholen und ein paar Worte loswerden. Wenn Mike Spescha erst mal im Erdgeschoss eingezogen ist, muss er wohl aufpassen, die Tür stets verschlossen zu halten. Oder er macht gleich den nächsten Club auf – oder eine Gartenwirtschaft. Dem Unruheherd wird schon etwas einfallen. (bms)

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