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Wenn Fiktion auf melancholische Realität trifft

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 30. April 2020

Unsere beiden Redaktoren Birgit Müller-Schlieper und Tobias Chi schreiben nicht nur leidenschaftlich gerne Lokalgeschichten, sondern auch Romane. Beide haben sie bereits eigene Bücher verfasst. Was sagt die eine zum Buch des anderen? Buchkritiken zweier Experten.

Buchautor und ZoZuBo-Redaktor Tobias Chi. (Bild: zvg)
Buchautor und ZoZuBo-Redaktor Tobias Chi. (Bild: zvg)

Mit «Círculo» legt Tobias Chi – Redaktor des Zolliker Zumiker Boten – einen wunderschönen und wundersamen Roman vor.

Es bräuchte eine grosse Kelle von Adjektiven, um dieses Buch nur annähernd zu beschreiben. Es ist so fantastisch – im wahrsten Sinne, so überbordend, so kraftvoll und bizarr. Es ist verwirrend, tief und dann wieder so leichtfüssig und spielerisch. Mit «Círculo» hat ­Tobias Chi ein Buch grosser Männer geschaffen. Männer mit Abgründen, Geheimnissen und Leidenschaften. Dass er selber eine grosse Leidenschaft für die Sprache und dem Spiel damit hat, ist greifbar. So stellt er sich in dem Buch auch selber vor:

«Tobias Chi (der fatalerweise ebenso heisst wie der Autor des Buches) etablierte sich in den 2020er-Jahren als Literat der Stunde. Sein Talent ist unbestritten, doch wurde das Fundament für seinen weltweiten Erfolg mit einer virtuos durchgeführten Kampagne gelegt, die seinen 2024 erschienenen Durchbruchroman ‹Die Kompliziertheit der Stuhlbeine› begleitete. Zusätzlich war die Geheimniskrämerei, die der Verlag mit der Person des Autors betrieb, für den Verkauf seiner Bücher förderlich. Die bekannten Eckpunkte aus Chis Leben sind spärlich und schillernd: 1973 als Sohn eines Chinesen und einer Schweizerin in Zürich geboren, führte der Botschafterberuf des Vaters den jungen Chi schon früh an die verschiedensten Orte dieser Welt. Den Kindergarten besuchte er in Pretoria, die Grundschule in Ottawa, Buenos Aires und Tokio, das Gymnasium in Rom, Kopenhagen und wieder in Rom. Sein Studium – Japanologie, Mathematik und Religionswissenschaften – absolvierte er an der Universität Heidelberg mit Semestern in Uppsala, Paris und Florenz. In jenen Jahren kam es aus nicht zu eruierenden Gründen zum Bruch mit der Familie, der darin gipfelte, dass Chi nach dem Tod seines Vaters das ihm zustehende Erbteil ablehnte, um fortan in bescheidenen, an Armut grenzenden Verhältnissen zu leben.»

Behaart wie ein Wollschwein

Des Weiteren hat Chi offenbar als UN-Soldat Dienste geleistet, arbeitete als lebende Statue und verlor das Manuskript seines ersten Romans beim Pokern an einen andalusischen Tomatenproduzenten, über den nur bekannt ist, dass er behaart wie ein Wollschwein war.

Bei jedem Wort spürt der Leser das Schmunzeln, das Tobias Chi beim Formulieren und Fantasieren auf den Lippen gehabt haben muss.

Grundsätzlich dreht sich «Círculo» um die Frage der eigenen Hölle. Wie würde sie in der heutigen Zeit aussehen? Und: Hat nicht jeder seine eigene Hölle? So wie jener Albóndiga, der in der Wirtschaft ­«Círculo» zuhause ist. Der Leser betritt mit dem Buch sofort diese Wirtschaft in Barcelona. Geruch von schwerem Wein liegt in der Luft. «Pausenlos schwemmt die Wendeltreppe neue Menschen in den Raum», heisst es da und: «Nacht für Nacht erfanden sie jene Leben, die zu leben sie versäumt hatten.» Über allem residiert der Alte – Albóndiga: «Er war vor 30 Jahren mit 40 Kilo weniger Körpergewicht nach Barcelona gekommen. Entgegen den Gerüchten hatte ihn nicht die Liebe in diese Stadt gebracht, sondern die Flucht vor seinem früheren Leben (das Gegenstand einer anderen Geschichte ist). Er hatte bewusst den Ort gewählt, wo ihn niemand kannte und ein Neuanfang möglich schien.»

Ursprünglich hatte Albóndiga beschlossen, nicht älter als 75 Jahre alt zu werden, doch im Buch begeht er gerade seinen 77. Geburtstag, an dem er seine literarische Jenseitsreise antreten möchte, und zwar in Begleitung von Jorge Luis Borges – dem grossen argentinischen Dichter.

Klischees treffen auf sich selber

Tobias Chi hält ohne jegliche Pause die Bälle in der Luft, lässt die Protagonisten ohne zu zögern in den Abgrund gleiten. Immer wenn der Leser denkt, er könne auch nur ansatzweise erahnen, was passiert, wird er mit einem Umkehrschwung eines Besseren belehrt. Zielsicher mixt der Autor Realität, Fiktion, Sprachwitz und Melancholie und zieht die Leserin tiefer und tiefer in die wunderschöne Abstrusität seines Romans. Aber nicht nur die «grosse» Geschichte fasziniert. Der Autor bindet wunderschöne und wundersame Geschichten am Rande mit ein – wie die Kafka-Parabel «Der Hungerkünstler» – und er zitiert sich sogar selber und wirkt damit noch nicht mal selbstverliebt. Er lässt Albóndiga seine Geschichte von den Stuhlbeinen lesen: «Wenn er daran dachte, erinnerte er sich weniger an konkrete Szenen oder Figuren als vielmehr an die weisse Schüssel, die er immer wieder hatte aufsuchen müssen, weil ihm während der Lektüre ständig übel wurde.» Es hat sich wohl selten ein Autor schäbiger beschrieben und wirkt damit eben besonders uneitel. Auf der Reise des Manuskripts kommt der Leser auch an der Geschichte «Am Grab des unbekannten Autors» vorbei, die ein angeblicher Literaturagent zu Papier brachte: «Es war ein grauer Tag. Natürlich war es ein grauer Tag, denn wir fuhren zu einer Beerdigung. Das erste Klischee des Morgens. Das zweite war, dass unser Wagen nicht ansprang. Alberto sass am Steuer und fluchte. Wir bestellten ein Taxi. Leider verwechselte unser Taxifahrer das Gas mit der Bremse. Auf dem Rücksitz probten wir eine Unterhaltung über Thomas Manns Spätwerk, die unter einer endlosen Reihe von Pappeln erstickte.»

Tobias Chi schafft es damit, Klischees genau aus ihrer Rolle herauszuholen und mit sich selber zu konfrontieren. Fast atemlos springt der Leser von Wort zu Wort und fühlt sich mal bezaubert, mal in die falsche Richtung gelockt.

Ja, die Hölle kommt vor. Der Leser kann sie förmlich riechen – und hier darf auch eine Frau im Mittelpunkt stehen oder vielmehr versteinern. Die Bilder, die der Autor entwirft, sind voller Details, mal schön, mal schmutzig. Der ganze Roman erinnert an einen vollmundigen Rotwein, der schwer werden könnte. Doch der Sprachwitz ist das leichte Salzgebäck, das den Wein perfekt ergänzt.

Tobias Chi, «Círculo»
320 Seiten, 2018, Skalpell Verlag
ISBN 9783964432322

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