Suche

«Eltern fallen oft aus allen Wolken»

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 29. April 2021

Im Jahr 2020 ist die digitale Welt massiv in die Kinderzimmer eingezogen, nicht zuletzt wegen Covid-19. Dies mit unterschiedlichsten Problemen.

Sabine Mayr ist Kinderärztin in Zumikon. (Bild: bms)

Sabine Mayr arbeitet als Kinderärztin in Zumikon und ist für Abklärungen bei Entwicklungsverzögerungen und -störungen zuständig. Im vergangenen Jahr registrierte sie auffällig häufig und zunehmend auch bei jüngeren Kindern Probleme wegen Cyber-­Mobbing.

Frau Mayr, mit welchen Fragen kommen die Kinder zu Ihnen?

Das können die unterschiedlichsten Probleme sein. Probleme in Schule oder Kindergarten, mit den Lehrpersonen oder Gleichaltrigen, Verdacht auf ADHS oder andere Verhaltensauffälligkeiten. Für mich ist es wichtig, ein gesamtheitliches Bild von der Situation des Kindes, des Jugendlichen zu bekommen, um Ursachen für Störungen herauszufinden. Dazu gehört auch das Sozialleben. Ich spreche mit dem Kind über die Situation zu Hause, über den Schulalltag, über Sorgen, über Freunde – auch über Kinder, die vielleicht nerven. Wird ein Kind gemobbt, können selbst Jugendlichen schon mal die Augen feucht werden, und häufig fallen die ­Eltern bei diesem erstmaligen «outing» aus allen Wolken. Erschreckend ist, dass die Kinder – Täter wie Opfer – immer jünger werden.

Wir geben unseren Kindern aber auch immer früher das Werkzeug dazu in die Hand.

Stimmt. Schon achtjährige Kinder laufen mit eigenem Smartphone durch die Welt. Und dann wird ganz einfach und schnell mal ein Foto gemacht oder per Screenshot aufgenommen und versendet. Was einmal im Netz unterwegs ist, kann nie mehr gelöscht werden – und der Urheber kann herausgefunden und strafrechtlich verfolgt werden. Wir Erwachsene sollten nicht müde werden, unsere Kinder zu begleiten – auch wenn es anstrengend wird. Unserer Generation mag es schwer fallen, sich mit all den Erneuerungen der digitalen Medien auseinanderzusetzen, aber wir sollten uns auseinandersetzen mit der Welt unserer Kinder. Wird ein Kind digital gemobbt, ist es viel schlimmer als früher, denn es hört zuhause nicht auf! Paradoxerweise legt ein Opfer das Natel nicht weg, um die Beleidigungen nicht zu sehen. Im Gegenteil. Es gibt dem Drang nach, nachzusehen, ob wieder neue gemeine Botschaften im Umlauf sind. Das Jahr 2020 mit seinem Homeschooling hat diese Entwicklung wahrscheinlich noch verstärkt, erstens weil die Kinder nun auch für Schularbeiten – und um überhaupt noch Kontakt zu Kollegen zu haben – vermehrt mit Medien umgehen, aber wahrscheinlich auch, weil Corona die Jugend mit zunehmendem Frust belastet und aggressiver macht.

Wie kann ich mich als Mutter verhalten?

Sensibel sein. Das Kind beobachten. Hat es gute Freunde? Ist es wie gewohnt aktiv? Wirkt es bedrückt, ängstlich, gereizt? Die wenigsten Kinder, die gemobbt werden, wenden sich an die Eltern. Sie wollen keine Petze sein, sie wollen sich keine Hilfe holen, weil das als Schwäche interpretiert werden könnte. Und sie haben Angst, dass es dann noch viel schlimmer wird.

Eltern sollen Interesse für das digitale Leben der Kinder zeigen. Ich habe mit meinem Sohn gegamed und war völlig überfordert.

Man muss nicht zusammen am PC spielen, aber Interesse zeigen. So wie wir unsere Kinder nicht abends alleine auf der dunklen Strasse lassen, dürfen wir sie nicht alleine im Internet lassen. Auch weil es da falsche Vorbilder gibt. Die Jungen wollen immer früher Muskeln aufbauen und dafür auch Nahrungsergänzungsmittel konsumieren. Die Mädchen tanzen schon viel zu früh auf Tiktok und machen obszöne Gesten, die sie selber noch gar nicht verstehen.

Wenn ich das Gefühl habe, ein anderes Kind schadet meinem Kind, soll ich die Eltern ansprechen?

Auf jeden Fall. Aber nicht vorwurfsvoll. Es sollte ein Austausch sein. Als Eltern bekommen wir oft zu wenig mit oder eben nur die eine Seite der Wahrheit. Die Eltern sollten sich gegenseitig unterstützen. Damit verhindert man auch den Druck, den die Kinder ausüben: «Aber die anderen haben auch alle diese App, dieses Game.»

Die digitale Welt hat Einzug gehalten in die Kinderzimmer. Wie kann ich meinem Kind Orientierungshilfe geben?

Es gilt, die positiven Aspekte zu nutzen und die, welche sich eher negativ auf uns auswirken, zu reduzieren. Ein Kind, das während der Hausaufgaben immer mal wieder aufs Natel guckt, die neuesten Nachrichten liest, braucht ewig für seine Schularbeiten und lernt effektiv schlechter. Wir können anregen, das Natel aus dem Zimmer zu verbannen und sich nur auf die Aufgaben zu konzentrieren. Das Kind wird selber registrieren, dass es dann viel schneller und produktiver geht. Wir sollten nicht die ­sozialen Medien verunglimpfen, sondern die Kinder zu einem verantwortungsvollen Umgang erziehen. Wenn ich feststelle, dass mein Kind viel zu oft und viel zu lange online spielt, bringt es wenig, das zu verurteilen und negativ zu kritisieren. Wichtig ist, dem Kind die Konsequenzen aufzuzeigen. Zum Beispiel: Wenn du heute Nachmittag am PC spielst, musst du deine Hausaufgaben heute Abend machen, und wir können nicht den Film gucken, auf den du dich gefreut hast. Durch das Stärken der Stärken kann ein Kind ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Dies gilt auch für Eltern, die merken: Mein Kind mobbt andere. Meist sind es eigene Ängste, die dazu führen, andere zu erniedrigen. Falls Eltern sich in dieser ­Situation überfordert fühlen, ist es absolut keine Schande, sich extern Hilfe zu suchen, etwa beim Kinderarzt oder der Beratungsstelle Samowar Meilen.

Werbung

Verwandte Artikel

Newsletter

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter und lesen sie die neusten Artikel einen Tag vor der Print-Veröffentlichung.

ANMELDEN

Herzlich willkommen! Melden Sie sich mit Ihrem Konto an.