Keine Narben auf der Haut – aber in der Seele

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 24. Juni 2021

Lebendige Geschichte: Ganz still wurden die Schüler beim Vortrag der KZ-Überlebenden Katharina Hardy.

Mit ruhiger, fester Stimme erzählte Katharina Hardy aus dem schlimmsten Abschnitt ihres langen Lebens. (Bild: zvg)

Geschichte ist normalerweise kein Fach, dem Schüler und Schülerinnen aufmerksam und gespannt folgen. Am vergangenen Donnerstag aber war das so in der Buechholz-Schule. Auf dem Stundenplan stand: lebendige Geschichte. Zu Besuch war Katharina Hardy, die 92-jährige Überlebende der Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen Belsen.

Es wird zwangsläufig immer seltener zu solchen Begegnungen kommen können. Umso wichtiger, dass die Erinnerungen weitergetragen werden. Die Schülerinnen und Schüler der 3. Sekundarstufe hatten zuvor Fragen an die alte Dame senden können.

«Eure Fragen waren unglaublich naiv. Ihr habt keine Ahnung von dieser Zeit», begann Katharina ­Hardy ihren Vortrag absichtlich schroff, um dann die Hand zu reichen: «Deswegen freut es mich, dass ihr mir nun zuhören wollt.»

Sieben Jugendliche durften live vor Ort sein, die anderen waren per ­Video in ihren Klassenzimmern ­zugeschaltet. Die Referentin begann ihre Schilderung fast sachlich und wertfrei. 1928 in Budapest ­geboren, interessierte sie sich früh für die Musik. Die Zehnjährige wurde 1938 in die Franz-Liszt-Musik­akademie aufgenommen, doch schon 1939 war jüdischen Schülern der Zutritt verboten. Sie erhielt privaten ­Musikunterricht. Christliche Schulen durfte sie nicht mehr besuchen. Es blieb ihr einzig das jüdische Gymnasium.

«Doch am 19. März 1944 marschierten die Deutschen ein. Neue Ge­setze wurden gegen uns erlassen.» Der Judenstern musste auf alle Kleidungsstücke aufgenäht werden, ­Juden durften nur in Häusern wohnen, welche mit einem Judenstern markiert waren, und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, war untersagt. Je mehr Katharina ­Hardy auf ihrem Lebensweg in der Erinnerung zurücklegt, um so unvorstellbarer wird das Erlebte. Ihre Grosseltern und der Rest der Grossfamilie auf dem Land wurden nach Ausschwitz gebracht. «Mein Opa starb auf dem Transport, die anderen in den Gaskammern des Konzentrationslagers, wenn nicht vorher.»

Ein Glas Milch gegen den Ehering

In dem Klassenzimmer war es fast zu ruhig, das Lachen vom Pausenplatz erschien unpassend. Katharina Hardys Vater wurde abgeholt, sie selber musste mit ihrer Schwester in ein Arbeitslager; Gräben ausheben. Sie durften noch einmal für wenige Tage nach Hause, dann wurden sie und ihre Mutter gezwungen, den langen Marsch anzutreten – den sogenannten Todesmarsch. Es war November 1944.

Durch Schnee und Eis mussten sie gehen, wer nicht mithalten konnte, wurde erschossen. Müde und mager erreichten die noch Lebenden schliesslich eine Werft. Ihre Mutter erkrankte an der Ruhr. Als Lastwagen kamen, um die Menschen abzutransportieren, schleifte Katharina Hardy ihre kranke Mutter hinter sich her zur Laderampe. Um sie herum wurde gehöhnt. Warum sie das denn mache? Die Mutter würde doch sowieso zu Seife verarbeitet. In der Festung in der heutigen Slowakei wünschte sich die Mutter ein Glas Milch; Katharina Hardy bezahlte es mit dem goldenen Ehering der Mutter. Doch es war zu spät. Soldaten verscheuchten die junge Tochter mit der Peitsche. Das Schicksal der Mutter wurde nie bekannt.

Am 7. Januar 1945 kam Katharina Hardy im Lager Ravensbrück an. Von ihrer Schwester war sie getrennt worden, als sie zuhause abgeholt wurden. Dass die Schwester wie viele andere im KZ verstorben ist, erfuhr die Wahlschweizerin erst Jahre später.

Im KZ Ravensbrück mussten sich alle vollständig entkleiden, um alte Lumpen anzulegen. Die Haare wurden abrasiert und drei Mal am Tag musste zum einstündigen Appell absolut still gestanden werden. Es war Winter und manchmal fehlten die Holzschuhe.

Fast scheint es, als würde Katharina Hardy über einen anderen Menschen erzählen und nicht aus den eigenen Erinnerungen. Sie wurde gezwungen, Greueltaten anzusehen. «Ihr habt keine Ahnung, wie grausam Menschen sein können», kommentiert sie mit ruhiger Stimme. Da die Front nahte, wurden die Insassen ins Konzentrationslager Bergen-Belsen verlegt – ein Vernichtungslager mit eigenem Krematorium. Für vier Menschen gab es eine Pritsche. Schlafen musste man mit angewinkelten Beinen.

Und genau so fanden die britischen Soldaten das 16-jährige Mädchen. Mit angewinkelten Beinen, die sie nicht mehr strecken konnte. Abgemagert auf 29 Kilo. Sie wurde ins Lazarett gebracht. Keiner glaubte so recht an die Genesung. Doch in Katharina Hardy war noch ein Funken Lebenswille. Immer wieder träumte sie von der Mutter. «Das gab mir Kraft.» In den letzten Wochen im KZ seien alle mit Läusen übersät gewesen. Sie habe sich mit grosser Willenskraft nicht gekratzt. «Ich hatte gehört, dass das Narben gibt. Und ich wünschte mir doch so sehr eine Zukunft. Ohne Narben.» Sie kämpfte sich zurück ins Leben, ging zurück nach Ungarn, wo sie ihren Vater wieder traf, der ebenfalls überlebt hatte. 1945 trat sie wieder ins Gymnasium ein, und 1946 wurde sie erneut in die Franz-Liszt-Musikakademie aufgenommen.

Die sehr persönliche Darstellung des Holocausts, der Hölle auf Erden, trieb Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen Tränen in die Augen und wirkte nach. Die Botschaft wurde deutlich: Alles dafür tun, dass sich die menschenverachtende Geschichte nicht wiederholt.

Durch die Begegnung mit der KZ-Überlebenden erhielten die Jugendlichen die Möglichkeit, ein Stück Geschichte persönlich kennenzulernen, und die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie sie sich in Zukunft gegen die Ausgrenzung jüdischer Menschen, gegen Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten einsetzen können.

Nachdem Katharina Hardy die Fragen der Jugendlichen lange nach dem eigentlich geplanten Schulschluss beantwortet hatte, wünschten die Schüler und Schülerinnen, sich persönlich zu verabschieden, übergaben ihr selbstgefertigte Stofftiere und applaudierten im Treppenhaus.

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Eine Antwort

  1. Sehr berührend, sehr beeindruckend, sehr erschrecken – man kann es sich nicht wirklich vorstellen und weiss doch, es war genau so.

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