Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 7. Oktober 2021
Nicht nur bei Kinder- und Jugendtherapeuten, auch in der Jugendberatung Samowar gibt es mittlerweile Wartelisten. Wichtig ist, mit dem Kind in Kontakt zu bleiben, beim Znacht zu reden, nicht nur zu meckern.
Bereits im vergangenen Sommer berichtete der Zolliker Zumiker Bote über die schwierige Corona-Situation für Kinder und Jugendliche. Nun – nach anderthalb Jahren – gibt es noch immer Einschränkungen und Massnahmen. Über die Auswirkungen äussert sich Olivier Andermatt, Psychologe und Psychotherapeut der Jugendberatung Samowar. Beide Gemeinden haben beschlossen, die Leistungsvereinbarung mit der Jugendberatung und Suchtprävention bis 2025 zu verlängern.
Die Massnahmen sind spürbar. Einige Klassen in unserem Bezirk Meilen mussten auch schon wieder in Quarantäne. Aber grundsätzlich ist es wichtig, dass die Schulen wieder offen sind und Präsenzunterricht angeboten werden kann.
Leider ja. Wir haben mehr Fälle zu betreuen und wir haben vermehrt komplexere Fälle mit tiefergehenden Symptomen, die eher in den klinischen Bereich gehören. Leider müssen mittlerweile nicht nur die Therapeuten Wartelisten führen, sondern auch wir. Das entspricht überhaupt nicht unserem Konzept, sehr schnell Termine anbieten zu wollen.
Zum Beispiel der Medienkonsum. Vermehrt haben Kinder und Jugendliche ihr Gaming-Verhalten oder den Social-Media-Konsum nicht mehr unter Kontrolle. Die durchschnittlichen Handyzeiten von Jugendlichen sind in den letzten zwei Jahren deutlich länger geworden. Gleichzeitig nutzen immer jüngere Kinder ein Handy: War es vor ein paar Jahren üblich, dass Kinder erst mit dem Eintritt in die Oberstufe ein Handy bekamen, laufen jetzt schon Zweitklässer mit einem Smartphone herum.
Generell kann man sagen, dass Jungen eher gamen und die Mädchen eher auf Social Media unterwegs sind. Mädchen fallen damit oft weniger auf, weil sie die Schule weniger vernachlässigen. Was meist unterschätzt wird: Die Algorithmen von Social-Media-Plattformen wie Instagram oder TikTok führen dazu, dass sich junge Nutzerinnen schnell in problematischen Themen verlieren. Plötzlich geht es nur noch um Depressionen, Ängste oder selbstverletzendes Verhalten.
Grundsätzlich ist es eine Herausforderung, pubertierende Jugendliche durch diese bewegte Lebensphase zu begleiten. Die Kinder werden selbstständiger, entdecken ihre eigene Welt. Das Verantwortungsbewusstsein entwickelt sich aber nicht immer parallel und kongruent. Das führt oft zu Spannungen. Eltern sollten versuchen, im Kontakt mit ihrem Kind zu bleiben und aufmerksam für dessen Befinden und Sorgen zu sein. Es gilt auch, in konflikthaften Zeiten gute gemeinsame Momente zu bewahren. Man sollte sich nicht verleiten lassen, zu sehr auf ein problematisches Verhalten zu fokussieren. Wenn es bei jeder gemeinsamen Mahlzeit um das unaufgeräumte Zimmer oder schlechte Schulleistungen geht, darf man sich nicht wundern, wenn die Jugendlichen keine Lust mehr haben, mit den Eltern Zeit zu verbringen.
Vielleicht. Wir haben alle viel zu tun, sind alle sehr beschäftigt. Wenn dann in der kurzen gemeinsamen Zeit nur kritisiert wird, ist das schwierig. Ich kenne viele Familien, die schon kapituliert haben. Dann isst jeder für sich alleine. Dabei ist selbst eine kurze gemeinsame Zeit wichtig und sollte auch von den Eltern gefordert werden.
Grundsätzlich ist es richtig, auch mit Kindern über die eigenen Ängste zu reden. Man sollte sich aber vorher fragen, ob es eine berechtigte Angst ist. Wenn Eltern ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Ängste auf die Kinder übertragen, wird es für das Kind ganz schwierig. Eltern müssen lernen, dass ihre Jugendlichen in die Welt hinaus gehen, dass sie etwas erleben und neue Kontakte knüpfen wollen. Das gilt es als Eltern auszuhalten.
Es ist wichtig, Kindern im Rahmen ihrer Fähigkeiten zu vertrauen, etwa darauf, dass sie in einer schwierigen Situation selber eine Lösung finden können.
Unbedingt. Es ist unsere Pflicht, unseren Kindern Zeiten ohne Handy zu ermöglichen. Kinder sind oft überfordert, ohne klare Regeln den Versuchungen von digitalen Medien zu widerstehen. Die Hersteller von Smartphones und Social Media sind schlau. Je mehr sie unsere Aufmerksamkeit fesseln können, desto mehr Geld verdienen sie.
Die zunehmende Konkurrenz durch das Internet war schon vor Corona ein grosses Thema. Auch, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder zunehmend kürzer wird. An der Goldküste kommt noch der Druck dazu, dass viele Eltern ihre Sprösslinge aufs Gymnasium schicken wollen. Das bedeutet für viele enormen Stress. Dazu kommen noch die steigenden Leistungsanforderungen. Wer heute aufs Gymi will, muss mehr können als noch vor 20 Jahren. Das macht es für die Mädchen und Jungen in den Primarschulen noch schwieriger. Das heisst: Der Druck für Schüler und Schülerinnen wächst und derjenige für die Lehrpersonen ebenso. Nicht alle sind diesem Druck gewachsen. Burnouts unter Lehrpersonen sind häufig. Ich finde, wir sollten den Menschen, die unsere Kinder täglich und meist sehr engagiert unterrichten, mehr Sorge tragen.
Mit Olivier Andermatt sprach Birgit Müller-Schlieper
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