Geschichten hinter statistischen Zahlen

Von Franca Siegfried ‒ 11. November 2021

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Ungleichheiten und Einkommensscheren in Gemeinden lassen sich statistisch abbilden. Aber wo bleibt die Erklärung der Ursachen? Statistikprofessor Rainer Winkelmann und der Gemeindeschreiber von Zumikon suchen nach Tendenzen.

Wer genau hinsieht, stösst auf die grossen Einkommensunterschiede in Zollikon und Zumikon. (Bild: cef)

Mit der einen Hand auf dem heissen Herd, mit der anderen im Kühlschrank – und Statistiker sprechen von mittleren Temperaturen. So ist der ­Median- oder Mittelwert beschrieben in einem Klassiker der So­zialwissenschaften von Andreas ­Diekmann. Fakt ist, Zahlen zu interpretieren, Ursachen zu finden und daraus gesellschaftliche Entwicklungen zu erkennen, ist ein Vorhaben mit Fehlerquoten. Der Tages-Anzeiger hat den sogenannten Gini-Koeffizienten ausgegraben, damit sollte die Ungleichheit der Einkommen in verschiedenen Schweizer Gemeinden, so auch in Zumikon und Zollikon im Zeitraum von 2007 bis 2017 abgebildet werden. Der Tages-Anzeiger zeigt eine Tendenz auf: Je mehr Einkommen, desto ungleicher verteilt ist es.

Rainer Winkelmann von der Universität Zürich hat sich im Auftrag des Zolliker Zumiker Boten die Kurve angeschaut. «Aus meiner Sicht ist das eine interessante Grafik», sagt der Statistiker. «Es wird nicht behauptet, dass ein höheres Medianeinkommen kausal eine höhere Ungleichheit verursacht. Das ist einfach eine interessante Korrelation, die natürlich noch nicht die Frage nach den zugrundeliegenden Ursachen beantwortet.»

Der Statistiker erklärt, dass zum Beispiel Altersverteilung in einer Gemeinde eine Rolle spielt. Also hat die Redaktion die Gemeindeschreiber von Zumikon und Zollikon bemüht und sie um demografische Daten gebeten. Wie viele Menschen beziehen nur noch AHV? Wie viele Sozialfälle leben in der Gemeinde? Sind die Kinder jetzt junge Erwachsene mit einem Einkommen von Null Franken, weil sie in Ausbildung sind?

Menschen, die AHV beziehen, bedeutet im Normalfall, dass sie ­maximal ein «Arbeitseinkommen» von 30 000 Franken haben. In dieser Gruppe gibt es jedoch Vermögensmillionäre wie auch Sozial­fälle – ein interessanter Hinweis vom Zolliker Gemeindeschreiber ­Markus Gossweiler. Im Jahr 2007 lebten in Zollikon insgesamt 2430 Menschen im AHV-Alter, davon mussten 584 nur von der AHV leben. Es ist kein leichtes Schicksal, in einer reichen Gemeinde am Existenzminimum zu leben. Zehn Jahre später, wohnten 3308 Pensionierte in Zollikon, wobei nur noch 507 ihren Lebensunterhalt von der AHV bezahlen mussten.

In Zumikon haben im Jahr 2017 von 5120 Einwohnern 25 Prozent AHV bezogen, 2007 waren es 23 Prozent. «Ganz tiefe Einkommen gibt es vermutlich in jeder Gemeinde», sagt Thomas Kauflin, der Gemeindeschreiber von Zumikon.

«In Zumikon existiert auch eine ­Anzahl Sozialhilfefälle und Genossenschaftswohnungen – bestimmt auch in Zollikon.» Sozialfälle und junge Erwachsene mit Null Einkommen bilden die untere Bandbreite. «Dies ist in allen Gemeinden der Schweiz wohl ähnlich hoch; faktisch unter dem definierten Existenzminimum». Das obere Ende bilden die höchsten Einkommen. «Hier gibt es wohl die grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden», analysiert Thomas Kauflin. «In Gemeinden mit wirklich hohen Einkommen existiert automatisch eine grössere Bandbreite und damit ein höherer Gini-Koeffizient.» Ohne weitere ­Statistiken zu konsultieren sei es selbsterklärend, dass sich Zumikon und Zollikon nicht massiv von anderen Goldküstengemeinden unterscheiden. «Hinzu kommt die Tatsache, dass es in Gemeinden mit hohen Einkommen meistens einen tiefen Steuerfuss gibt, was häufig die Wohnungsmieten nach oben treibt, woraufhin weitere Personen mit hohem Einkommen zuziehen, was wiederum …» Thomas Kauflin beschreibt eine Endlosschlaufe, in der sich auch seine Gemeinde befindet. Wohnen ist in jedem Fall ein Schlüsselfaktor zur Einkommensschere. In Zollikon gibt es fünf ­aktive Baugenossenschaften. Zum Beispiel besitzt die neue Baugenossenschaft Zollikon, nBZ 181 Wohnungen in 17 Liegenschaften. Sie sind über die ganze Gemeinde verteilt – Ghettos sind unerwünscht. Die Baugenossenschaft besteht schon seit 1946. Ihr Ziel ist es, Wohnungen zu vernünftigen Mietzinsen zu vermitteln. Die Genossenschaft ist auch nach 75 Jahren noch aktiv und kauft weitere Liegenschaften. Die Nachfrage für bezahlbare Wohnung ist gross, besonders für junge Familien mit Kindern. Damit eine Gemeinde attraktiv bleibt, muss sie eine soziale Durchmischung anstreben. Ein Ort ohne Kinderlachen ist kein Ort zum Leben.

Was erwähnt werden muss, ist, wie viele Millionen finanzstarke Gemeinden zum Finanzausgleich für finanzschwächere Gemeinden bezahlen. 2017 betrug der Ausgleich allein in Zumikon 28,49 Millionen Franken. Die Einkommensschere anhand eines Gini-Koeffizienten zu erklären, gelingt nicht ohne Hintergrundinformation. Die Grafik des Tages-Anzeigers zum Beispiel zeigt, dass es in Gemeinden unter 1000 Einwohnern mit tiefem Medianeinkommen auch grosse Unterschiede geben kann. Wenig überdurchschnittlich verdienende Personen können den Gini-Koeffizienten nach oben treiben, ohne das Median­einkommen der Gemeinde massgeblich zu erhöhen. Kurzum, Zahlen und Koeffizienten bilden uns Menschen und unsere gesellschaftliche Entwicklung nicht genügend ab. Hinter jeder nackten Zahl steht eine Lebensgeschichte.

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