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Weit weg vom Krieg

Von Franca Siegfried ‒ 9. Juni 2022

Yves Rossier, der Schweizer Ex-Botschafter von Russland sprach über die Lage im Ukraine-Krieg. Im Rahmen der Mitglieder­versammlung hat die Schweizerisch-Russische Handelskammer am 1. Juni in den Gemeindesaal Zollikon geladen. Das Referat war öffentlich. Ein Stimmungsbericht.

Matterhorn als Goldnugget ziert den Jahresbericht der Schweizerisch-Russischen Handelskammer, welche den Ex-Botschafter begrüsst. (Bild: ab)

Yves Rossier bewegt sich sonst auf internationalem Parkett. Am Mittwoch letzter Woche schritt er jedoch im Gemeindesaal über das Zolliker Parkett. Der 61-Jährige war langjähriger Bundesbeamter und Diplomat. Seine beruflichen Stationen könnten nicht diverser sein. Der Jurist leitete etwa die Spielbankenkommission, wird Direktor des Bundes­amtes für Sozialversicherungen im EDI bis zum Staatssekretär der Poli­tischen Direktion im EDA. Im Oktober 2016 wurde er zum Schweizer Botschafter in Russland ernannt. Ende 2020 verliess er Moskau wieder. Letzte Woche war Yves Rossier auf Einladung der Schweizerisch-Russischen Handelskammer für eine persönliche Lagebeurteilung zum Ukraine-Krieg angereist. Dieser gemeinnützige Verein besteht seit 2020 und ist an der Dufourstrasse in Zollikon domiziliert. Sogar der Zolliker Gewerbeverband machte seine Mitglieder auf das Referat aufmerksam.

Crashkurs Russland

Svetlana Chiriaeva, Präsidentin der Handelskammer, begrüsst den Ex-Botschafter und eröffnet die Veranstaltung. Im Saal sitzen auffallend viele Frauen, Russinnen, ein gemischtes Publikum, auch einige Schweizer. Kurzum, Yves Rossier erklärt an diesem Abend Russen, warum ihr Land so besonders ist. Das Publikum bekommt eine Art Crashkurs «Die Geschichte Russlands in 60 Minuten». Eloquent wie ein Historiker jongliert er Jahreszahlen und findet dabei Schlüsselworte wie Macht, Reich und Land. Er spricht über Epochen, die sich in die Volksseele Russlands einprägten. Seine Ausführungen ­beginnen im Jahr 1280 mit den Mongolen. Gehorsamkeit, Leibeigenschaft, Genozide, Zwangsumsiedlungen – die Schilderungen liegen schwer im Magen. Bei den russischen Machtträgern, den Zaren, gab es keine Nachfolgeregelung. Jeder Zar musste siegreich sein, nur so konnte er an der Macht bleiben. Yves Rossier beschreibt die Fragilität dieser Macht. Die Maxime der vertikalen Macht gelte bis heute – auch für Präsident Wladimir Putin. Der Referent spricht über die Epoche 1914 bis 1946 als grosses Trauma des Landes. In dieser Zeit starben 50 Millionen Menschen einen gewaltsamen Tod. Keine Reformen hätten die Situation stabilisieren können, im Gegenteil, Reformen hätten das Land noch mehr in Chaos gestürzt. Daraus sei die russische Sehnsucht nach Stabilität gewachsen, die sich in der Akzeptanz vertikaler Macht abzeichnet.

Düstere Prognose

Yves Rossier erklärt auch Putins ­Zitat, es gebe die Ukraine nicht. Das Land war nicht immer russisch, sondern aufgeteilt in Polen, Österreich und Ungarn. Das National­gefühl der Ukrainer entstand 1945, seither existiert die Nation Ukraine. Sie entwickelte sich in den letzten Jahren als Brücke zwischen Russland und Europa. Der ehemalige Botschafter warnt, ohne die Ukraine würde Russland noch weiter vom Westen wegdriften. Durch Putins Angriffskrieg sei die Nation Ukraine konsolidiert und als Nebeneffekt die Nato gestärkt. Zumal 20 Prozent der Russen gegen diesen Krieg seien, 40 Prozent würden schweigen. Seine Prognose, dass er auch nicht wisse, wie lange der Krieg noch dauern werde, und die verheerenden Auswirkungen, die auch Russland treffen, bringen die Stimmung des Publikums zu einem spürbaren Tief. Nur zögerlich kommen erste Fragen. Eine stolze Russin bricht das Schweigen. Sie hegte grosse Hoffnungen nach dem Minsker Abkommen von 2015. Warum haben damals die Deutschen und Franzosen die politische Beilegung des Ost-Ukraine-Krieges nicht erreicht? Yves Rossiers Antwort: Deutsche und Franzosen können nichts erreichen, das Schicksal eines Landes liegt in den Händen des Volkes. Weitere Fragen zur Diplomatie: Warum hat sie versagt? Der Ex-Botschafter weist auf die Schweizer Neutralitätspolitik, zudem sei die Diplomatie nicht mehr als Geburtshelfer für Lösungen in einem Konflikt. Ein Russe beschwert sich in perfektem Deutsch über die Schweizer Medien und deren einseitige Berichterstattung; er vergleiche die Meldungen russischer und chinesischer Medien mit den helvetischen. Hat der Referent nicht eben über den Zentralismus von Moskau gesprochen, der die Medien kontrolliert?

32 tote Medienschaffende

Besonders hektisch wird es, als Wladimir Putin von einem Mann als Diktator bezeichnet wird. Die Stimmung kocht hoch, eine gewisse Ohnmacht ist spürbar, der Sauerstoff nimmt ab, obwohl der Saal nicht voll ist. Und beim Schlusswort versagt der Präsidentin der Handelskammer die Stimme. Sie dreht sich diskret um, tupft sich Tränen weg, entschuldigt sich. Mit einem wohlwollenden Raunen zeigt das Publikum Mitgefühl, die Anspannung löst sich etwas. Auf dem Titelblatt des Jahresberichtes der Schweizerisch-Russischen Handelskammer ist das Schweizer Matterhorn als Goldnugget abgebildet. Wie lange noch? Laut Lagebeurteilung von Yves Rossier in Zollikon geht Russland wirtschaftlich verheerenden Zeiten entgegen. Die aktuellen, menschlichen Tragödien auf beiden Seiten sind im historischen Exkurs untergegangen. In den drei Monaten Krieg haben allein 32 internationale Medienschaffende ihr Leben geopfert für eine Berichterstattung vor Ort – nicht im Gemeindesaal von Zollikon.

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Eine Antwort

  1. Da habe ich leider etwas ganz besonderes verpasst. Sehr schade. Ich frage mich schon lange, wie sich die im Westen assimilierten RussINNen zu diesem Krieg stellen. Der Bericht deutet zumindest an, dass die geschichtliche Einordnung Rossier’s von de Anwesenden zur Kenntnis genommen wurde.

    Gibt es das Referat schriftlich?

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