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Nach dem Suizid

Von Ramona Bussien ‒ 8. September 2022

Der Welttag der Suizidpräven­tion am 10. September soll die ­Bevölkerung für ein schwie­riges, doch wichtiges Thema ­sensibi­lisieren. Der Zolliker Jörg Weisshaupt setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass auch die Hinterbliebenen ­Unterstützung erfahren.

Wegsehen. Schweigen. Unter den Teppich kehren. Wird es unangenehm, wollen die meisten von uns weg. Zum nächsten, leichteren Thema. Oder auf die andere Strassenseite. Doch dadurch verflüchtigt sich ein Problem nicht, im Gegenteil. Es gärt weiter, und Stigmatisierung und Tabuisierung erschweren den ohnehin schon steinigen Leidensweg Betroffener. Jörg Weisshaupt setzt sich seit Jahrzehnten für die ­Suizidnachsorge ein und leitet schweizweit Gruppen Hinterbliebener, die sich über ihre Geschichten austauschen.

Zahlen, die zu denken geben

Weltweit kommt es zu über 800 000 Suiziden pro Jahr. Das ist ein Suizid alle 40 Sekunden. Nicht gezählt: Suizidversuche, nicht restlos geklärte Verkehrsunfälle oder vermutete Medikamentenüberdosierungen. Für die Schweiz spricht Jörg Weisshaupt von 1000 Suiziden pro Jahr. Zusätzlich wählen rund 1000 Personen den Weg des assistierten Suizids – also in Begleitung von Organisationen wie Exit, was in der Schweiz legal ist, sofern bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Etwa 80 Prozent assistierter Suizide betreffen krebskranke Menschen ohne Hoffnung auf Heilung.

Häufig geht dem Suizid eine psychische Erkrankung voraus. Häufig, nicht immer. Viele litten unter Depressionen. Viele, nicht alle. Hinter Suiziden stehen komplexe Geschichten; kein Suizid ist wie der andere. So unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedlich ist das, was sie letztlich zu dieser Entscheidung treibt.

Was nach dem Suizid bleibt

Das Leid endet nicht mit dem Suizid. Jörg Weisshaupt spricht von zwei bis fünf engsten Familienangehörigen pro Person. Die IASP (International Association for Suicide Prevention) fasst den Betroffenenkreis weiter und spricht von 135 Personen, die im Fall eines Suizids betroffen sind und womöglich selbst Unterstützung benötigen. Dazu gehören Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, auch Mitschüler oder Arbeitskollegen, Kontakte auf Social Media und schliesslich die Blaulichtorganisationen, die zum Ort des Geschehens gerufen werden, oder Zeugen. «In der Schweiz sind das 1000 mal 130. 130 000 Menschen, die erstmalig oder wiederholt mit Suizid konfrontiert werden.»

Das grösste Problem beim Suizid sei, dass Angehörige nicht Abschied nehmen können. «Es gibt die Möglichkeit nicht, einen gemeinsamen Weg der Trauer zu gehen.» Fragen stellen sich, die zumeist unbeantwortet bleiben. «Der Suizid lässt einen alles hinterfragen. Die gemeinsamen Pläne, die Werte, die Schuld, sich selbst. Habe ich zu wenig genau hingeschaut? Hätte ich ihn ansprechen sollen? Weshalb hat er sich mir nicht anvertraut?»

Ein Suizid macht die Welt auf einen Schlag unberechenbar und unkontrollierbar. Fragen nach dem Warum gehören ebenso dazu wie die Suche nach einem Schuldigen. Gefühle von Schock und Wut, Scham, Angst und Hoffnungslosigkeit bis hin zu Erleichterung können zusätzlich verwirren und Hinterbliebene in die Isolation treiben.

Reden hilft

Stigmatisierung und Tabuisierung erzeugen viel Leid, auch schon beim Thema psychische Erkrankungen. So sagte ein Suizidüberlebender, nun querschnittsgelähmt, zu seinem Vater: «Weisst du, jetzt sehen die Menschen, dass ich krank bin.»

Konfrontiert mit solchen Themen, fühlen sich viele überfordert. Was früher ein Problem der Kirche war, der Konfession, ist heute ein gesellschaftliches. «Oft liegt es daran, dass das Umfeld nicht weiss, wie es reagieren soll», erklärt Jörg Weisshaupt. «Wie begegne ich der Person? Soll ich sie einfach begrüssen? Darauf ansprechen? Fragen, wie es ihr geht? Fängt sie dann an, zu weinen?»

Kurz nach einem Suizid sei die beste Reaktion, möglichst konkrete Hilfe anzubieten. Für die Betroffenen zu kochen. Oder einzukaufen.

In den Selbsthilfegruppen ermutigt Jörg Weisshaupt die Betroffenen immer wieder, von sich aus ihren Gefühlszustand zu kommunizieren. Ihrem Umfeld mitzuteilen, wenn sie mal keinen guten Tag haben. Zu schildern, wie es ist, mache es häufig für alle Beteiligten einfacher. Dies gelte auch für Kinder. «Ein Kind versteht Suizid zwar noch nicht, aber man kann ihm erklären, dass sich ein Mensch das Leben genommen hat», sagt Jörg Weisshaupt. «Man schiebt die Probleme einfach vor sich her, wenn man nicht offen spricht.»

Anlaufstellen für Betroffene

Wichtig sei, Angehörige auf Angebote wie Therapien, Seelsorge oder Selbsthilfegruppen hinzuweisen. «Eine amerikanische Studie zeigte auf, dass Hinterbliebene, die nicht darauf angesprochen werden, erst nach rund viereinhalb Jahren professionelle Hilfe suchten. Geht man proaktiv auf sie zu, dauert es einen Monat», sagt Jörg Weisshaupt. Viele Jahre hat er selbst im Namen von Refugium – dem Verein für Hinterbliebene nach Suizid – Selbsthilfegruppen geleitet. So gründete er zusammen mit seiner Frau die ­«Nebelmeer»-Gruppen, in denen sich suizidbetroffene Jugendliche in Bern und Zürich oder online treffen. Inzwischen leitet er den Verein «Trauernetz», der für Angehörige aller Altersgruppen eine Plattform bietet.


Über Jörg Weisshaupt: Warum der Suizid für Hinterbliebene so schwierig ist


Anlaufstellen für Angehörige:
www.trauernetz.ch
Für Jugendliche: www.nebelmeer.net

Anlaufstellen bei Suizidgedanken:
www.suizidpraevention-zh.ch
Die Dargebotene Hand: www.143.ch
Für Jugendliche: Tel. 147

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