Eine Gesellschaft für alle

Von Franca Siegfried ‒ 6. Oktober 2022

Von Toronto nach Zollikon – Barbara Fry Henchoz berichtet von ihrem Leben zwischen Familie und Beruf. Sie hat sich ein Wirkungsfeld aufgebaut, das uns alle angeht.

In Kanada hat Barbara Fry Henchoz erlebt, dass es funktionieren kann, in der Schweiz setzt sie sich für Fairness und Gleichheit ein. (Bild: fs)

Bevor sie sich auf ihr E-Bike schwingt, wird noch der blaue Helm aufgesetzt – danach entschwindet sie im Fluss des Abendverkehrs. Ihr Ziel ist Zollikon. Seit der Pandemie hat Barbara Fry ­Henchoz in Zürich das ehemalige EWZ-Kraftwerk für sich entdeckt. Es ist ein unkonventioneller, jedoch inspirierender Ort zum Netz-werken und Co-worken. Bei einer Tasse Bergkräutertee hat sie im Kraftwerk berichtet, was sie macht und warum sie schon mehr als zehn Jahre mit ihrer Familie in Zollikon lebt. Ihre Erzählungen sind interessant, überraschend und immer schwingt einen Hauch Neugierde mit. Der britisch-kanadische Psychologe Daniel Ellis Berlyne erforschte ausgiebig die menschliche Neugierde. Dabei fand er zwei Arten: die epistemische Neugier als wissensbezogen, mit dem starken Wunsch zu erkennen, was ist und zu verstehen, ­sowie die perzeptuelle Neugier, die er als Wunsch, Neues auszupro­bieren, beschrieb. Barbara Fry ­Henchoz lebt beide Arten. Über ihr Studium in Volkswirtschaft, Politologie und Soziologie berichtet sie, als sei sie erst gestern im Hörsaal der Universität Bern gesessen. Nach dem Studium wollte sie in der ­Praxis mehr über Kommunikation wissen und arbeitete in einer PR-Agentur, bevor sie sich für eine ­Stelle in der Genfer Pharmabranche bewarb. Ihrem zukünftigen Mann Jean-Jacques ist sie in London begegnet, obwohl er aus der Westschweiz stammt. Ein guter Grund, warum in der Familie Deutsch und Französisch gesprochen wird, ­hinzu kommt Englisch mit den Kindern – also «trilingue». Im Jahr 1998 kam Tochter Isabel auf die Welt, fünf Jahre später Sohn Nicolas.

Auslandsjahre

Im Jahr 2005 erhielt ihr Mann Jean-Jacques ein Angebot für Toronto. Zu dieser Zeit hatte sich die damals 39-Jährige an der Universität in ­Lugano für den Executive Master in Kommunikation eingeschrieben – für den Abschluss musste sie von Kanada ins Tessin pendeln. «In ­Kanada habe ich sofort eine Stelle gefunden», sagt Barbara Fry Henchoz. «Im Ausland leben, arbeiten, das ist eine prägende Erfahrung.» Fünf Jahre in einem Land mit aktiver Immigrationspolitik – in Toronto leben insgesamt 100 Ethnien ­zusammen, eine Multikulti-Stadt. «Die Kinder feierten in der Schule alle religiösen Feiertage ihrer Gspänli mit», sagt sie. Alles sei so selbstverständlich. Auch sie habe als berufstätige Mutter erlebt, dass Beruf und Familie sich durchaus vereinbaren lassen, ohne ständigen Erklärungsbedarf oder schlechtes Gewissen. Es gab jedoch auch Frauen, welche Daheim blieben. «Sie werden in Kanada homemaker und nicht housewife genannt. Wir Frauen mussten keine Angst vor Konsequenzen haben, wenn wir unsere Kinder von der Krippe abholten und nicht bis spät nachts im Büro sassen.» Sie übernahm ­damals die Verantwortung für die Kommunikationsabteilung eines Biotech-Unternehmens.

Lebensmittelpunkt Zollikon

Reich an Erlebnissen ist sie mit der Familie nach fünf Jahren in die Schweiz zurückgekehrt – Zollikon wird ihre neue Heimat. Die Joggingrunde zum Rumensee ist ihre Hausstrecke geworden. Die täglichen Yoga-Übungen sind in der Agenda vermerkt und da ist noch ihr E-Bike, das sie vor noch nicht langer Zeit gegen ihr altes Velo eingetauscht hat. Sie schätzt in Zollikon auch die Nähe der Kultur – Tonhalle, Opernhaus und Theater. «Wir wollten, dass unsere Kinder selbstbestimmt lernen können, aus diesem Grund haben sie die Primarschulzeit in Montessori-Schulen verbracht.» Danach besuchten beide die Sekundarschule in Zollikon, so bekamen sie genügend Zeit für neue Freundinnen und Freunde nach der Rückkehr aus Kanada. Es folgt das Kurzzeitgymnasium in Zürich.

Kultur des Dazugehörens

Auch Barbara Fry Henchoz hat sich in ein neues Arbeitsfeld vertieft, das sie heute professionell mit ­offensichtlicher Begeisterung betreibt: Diversität und Inklusion. Was sich technokratisch liest, hat viel mit Selbstverständlichkeit zu tun. Inklusion als eher abstrakter Begriff soll aufzeigen, dass es eine Gesellschaft für alle gibt oder eine Kultur des Dazugehörens. Sie nennt ihren Ansatz: «Re-Thinking Diversity». Im Zentrum steht die Bildung des Bewusstseins etwa für Fairness, Chancengleichheit oder Diskriminierung. «In Firmen ­suche ich im Gespräch wie auch mit Workshops herauszufinden, wie sich die Unternehmenskultur manifestiert, wo sie verbessert werden kann», sagt sie. «Es lohnt sich und bringt Erfolg, eine Vielfalt von ­Mitarbeitenden mit unterschiedlichsten Talenten in einer Organisation zu haben, das kann jedoch nur eine offene und wertschätzende Organisationskultur bewältigen.» Auf dem Weg in ihr neues Berufsfeld als selbständige Unternehmensberaterin hat sie besonders die epistemische Neugier, die Wissensgier gepackt. Sie liest ­Studien, Literatur und stösst dabei auf Iris Bohnet. Die Verhaltensökonomin an der Harvard Kennedy School in Cambridge, Massachusetts, stammt von Emmen im Kanton Luzern. Beide Frauen, Bohnet und Fry Henchoz, haben sogar den gleichen Jahrgang: «Es geht vertieft um das Verständnis, wie und warum wir uns so verhalten, warum wir ­Vorurteile pflegen, entsprechend reagieren, nur gewisse ­Mitarbeitende fördern, andere ­vernachlässigen usw.» Auf der theoretischen Basis dieser Verhaltenspsychologie bietet Barbara Fry Henchoz eine Art Übersetzung in die Praxis, angepasst an die aktuelle Situation der Firma. Deshalb hat sie auch zusammen mit dem Zolliker Andreas Wullschleger Podcasts entwickelt, die sich das Personal wie auch Kunden der ­Firma anhören können. Mit «Voices for Change» will sie Diversität und Inklusion einem grösseren ­Publikum näherbringen. Auch für Menschen, die auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz sind, an dem sie sich wohlfühlen, gut behandelt werden, ohne Ängste arbeiten und so ihre Fähigkeiten und Talente einbringen können. Im ehemaligen EWZ-Kraftwerk, das Barbara Fry Henchoz als inspirierenden Ort aufsucht, werden wohl bald schon die ersten «Co-Worker» die Podcasts «Voices for Change» hören.

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