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Von Realität keine Spur

Von Franca Siegfried ‒ 3. November 2022

Ein Verkehrsexperiment der Stadt Zürich, das alle Pendler der Goldküstengemeinden zu unfreiwilligen Protagonisten machen will. Die Bellerivestrasse soll dafür einige Monate als Feldlabor dienen.

Die Bellerivestrasse beim Bahnhof Tiefenbrunnen an der Grenze von Zollikon im Jahr 1964 – damals noch ohne Verkehrskollaps und städtischen Verkehrsversuch. (Bild: © ETH-Bibliothek Zürich, Archiv)

«Die beste Simulation entspricht nicht der Realität.» Dieser Satz ist die selbsterklärende ­Argumentation für den geplanten Verkehrsversuch mit der Aufhebung von zwei Fahrspuren an der Bellerivestrasse. Am 26. September hat Stadträtin Karin Rykart zusammen mit Esther Arnet, Direktorin der Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich, in einer Informationsveranstaltung das Konzept des Experimentes mit Zeitplan aufgezeigt. An die Veranstaltung waren unter anderem Planungsgruppen, die Gemeindekonferenz Meilen, wie auch die Gemeinde Zollikon eingeladen. Die Präsentation der Veranstaltung ist im Internet aufgeschaltet.

Experiment unter freiem Himmel

Die beste Simulation entspreche nicht der Realität, dieses Zitat ist eine Bankrotterklärung an alle Simulationsmodelle. Diese haben sich in der Digitalisierung zu den wichtigsten Instrumentarien von internationalen Raum- und Verkehrsplanern entwickelt. Ausgerechnet die Regierung einer Stadt, die sich als Smart City ausgibt, zweifelt an Simulationen. Zumal die Grösse der Stichproben in einer Studie noch lange kein Garant ist für repräsentative Ergebnisse – das gehört zum Einmaleins der Statistiklehre. Das gilt auch für das Experiment Bellerivestrasse, indem alle Pendler der Goldküste für einige Monate zu unfreiwilligen Protagonisten der Stadt Zürich werden. Ihr Fahrverhalten in einer künstlich erzeugten prekären Verkehrssituation wird anhand von Videokameras und Seitenradargeräten aufgezeichnet. Kurzum, die Ermittlung von Fahrzeugen, die den Strassenabschnitt in einem bestimmten Zeitraum durchqueren, gestaltet sich trotz Feldlabor immer noch rudimentär. Ähnliche Daten haben schon im Jahr 2018 das Büro B+S Ingenieure und 2019 die Beratungsfirma EBP im Auftrag des Tiefbauamtes unter dem damaligen Stadtrat Richard Wolff erhoben – damals ohne Reduktion der Fahrspuren. Und! Diese Daten wurden in einer Verkehrssimulation mit reduzierter Fahrspur analysiert. Die Resultate haben jedoch den Erwartungen des damaligen Stadtrats nicht entsprochen. Er liess das Parlament im ­Ungewissen.

Erst unter Druck der Redaktion des Tages-Anzeigers veröffentlichte Richard Wolff die Studien. Ihre Kernaussagen sind, dass sich das Verkehrsaufkommen mit nur noch zwei Spuren nicht ohne Risiken bewältigen liesse oder Rückstau­situationen die Folge wäre. Auf Anfrage des Zolliker Zumiker Boten schreibt die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich: «Die Studien und Simulationen zeigen auf, dass diese Verkehrsführung auf der ­Bellerivestrasse mit grosser Wahrscheinlichkeit möglich ist. Nun ­sollen diese Erkenntnisse in der Realität überprüft werden.» Altstadtrat Wolff hat das Dossier Karin Rykart übergeben. Altstadtrat ­Filippo Leutenegger hatte damals die «heisse Kartoffel» Richard Wolff weitergereicht. Stadträtin ­Rykart muss jetzt reagieren, obwohl eine Sanierung der Bellerivestrasse erst für das Jahr 2030 geplant ist.

Stauraum Zollikon

In der Zwischenzeit hat sich ein überparteiliches Komitee aus Politik, Gewerbe und Bevölkerung gebildet (bellerive-staufrei.ch). Eine Petition ist geplant, es werden aktuell die nötigen 10 000 Unterschriften in den Goldküsten-Gemeinden, auch in Zollikon und im Zürcher Seefeld-Quartier gesammelt. Mitglied im Komitee ist Patrick Dümmler. Er wohnt in Zollikon, ist dort seit Juli Gemeinderat und arbeitet in der Stadt Zürich beim Think-Thank ­Avenir Suisse: «Meine persönliche Sorge wegen des geplanten Versuchs ist, dass ganz Zollikon zum Stauraum wird mit einem ausufernden Ausweichverkehr», sagt er. «Es geht also nicht nur um die Seestrasse, sondern auch um die Forchstrasse im Zollikerberg, nicht zu vergessen die künftigen Auswirkungen des Gesundheitsclusters Lengg.» Und er doppelt nach: «Ohne Not will die Stadt Zürich etwas erzwingen; man hat genügend Zeit bis zur Sanierung der Bellerivestrasse.» Er erwähnt dabei auch die letzte Verkehrszählung auf der Forchstrasse, die schon jetzt mehr Verkehr bewältigen muss als der Gotthard.

Unsere Anfrage an die Kantons­polizei, die verantwortlich ist für die Bellerivestrasse, beantwortet die Kommunikationsabteilung: «Für die Ausarbeitung des Projekts ­inklusive der Studien ist die Stadt Zürich bzw. die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich zuständig.» Peter Zimmermann, Leiter der Gemeindepolizei Zollikon, hat dank seiner langjährigen Erfahrung im Verkehrsdienst eine klare Meinung: «Sicher ist, sobald man eine Spur auf der Autobahn sperrt, gibt es einen Rückstau.» Er betont auch, dass mit dem Versuch eine Zunahme des Ausweichverkehrs in der Gemeinde vorprogrammiert ist. «Zollikon ist verkehrstechnisch der Trichter zur Stadt Zürich.» Von der Petition, die gegen den Verkehrsversuch im Gange ist, weiss auch die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich und schreibt: «Sobald die Petition eintrifft, wird sie der Stadtrat beantworten.»

Gesicht wahren

Bei jedem Forschungsdesign, egal in welcher Disziplin, sind Abbruchkriterien für die Minimierung möglicher Risiken zentral. In einem Verkehrsexperiment sind es beispielsweise Kriterien wie Rückstaulängen, Fahrzeiten und Ausweichverkehr. Bei einem allfälligen Verkehrskollaps sollte anhand dieser Kriterien das Experiment abgebrochen werden. Die Kriterien werden jedoch erst im Frühling 2023 bestimmt. «Ich versichere Ihnen, bei erheblichen Problemen wird der Versuch sofort abgebrochen, wir werden alles offenlegen, wir werden nichts verstecken… », lautet die Schlussfolie von Karin Rykart. Mit ihren Beteuerungen signalisiert die Stadträtin, dass sie mit «unbequemen» Daten anders umgehen wird. Statistik und Ideologie vertragen sich schlecht – auch das ist eine Realität.


Mehr Informationen:
https://www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/dav/themen_projekte/bellerivestrasse.html

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Eine Antwort

  1. Ich frage mich, wie lange es noch geht, bis das Projekt Seetunnel, das seit Ewigkeiten in den Schubladen wartet, endlich wieder salonfähig wird.

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