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«Purscht, du muesch eifach läse»

Von Franca Siegfried ‒ 20. April 2023

An den letzten Solothurner Literaturtagen hat Bundesrat Alain Berset Reto Hänny den Grand Prix Literatur überreicht. Die berührende Geschichte eines Bündner Schriftstellers, der in Zollikon wohnt.

Vom Walser Bergbub zum preisgekrönten Schriftsteller. Reto Hänny in seinem Wohnzimmer in Zollikon. (Bild: fs)
Vom Walser Bergbub zum preisgekrönten Schriftsteller. Reto Hänny in seinem Wohnzimmer in Zollikon. (Bild: fs)

Die Kraft des Erzählens ist in uns Menschen tief verankert. Im Zeitalter der Digitalisierung, der Tyrannei von Algorithmen und Twitter verblasst das Narrative. Wer jedoch das Glück hat, Reto Hänny zu treffen, der begreift, warum ein Leben ohne Geschichten sich leer anfühlt. Reto Hänny bekam letztes Jahr den Grand Prix Literatur vom Bundesamt für Kultur (BAK) verliehen. Zur Eröffnung der Solothurner Literaturtage hat Bundesrat Alain Berset Hännys Lebenswerk mit 40 000 Franken geehrt. «Es war eine riesige Überraschung», sagt Reto Hänny. Der Preis kam zum richtigen Zeitpunkt, da er sich in der Überarbeitung der zweiten Auflage von «Sturz» befand.

Seine Werke sind eigenständig, kümmern sich nicht um Trends, seine Sätze können ins Endlose gehen, sich verlieren. Aber sie stimmen immer, gehen grammatikalisch auf. Der Roman mit dem Titel «Flug» von 1985 hat er 2007 überarbeitet, und 13 Jahre später ist das Werk auf 600 Seiten angewachsen mit dem neuen Titel «Sturz». «Wichtig ist es, den richtigen Ton zu finden; der Rest ergibt sich, ist hartnäckige Arbeit und Respekt vor der Sprache», sagt der Schriftsteller. Während Lesungen arbeitet Hänny gern mit dem Schlagzeuger Fritz Hauser zusammen. Als er vor einigen Jahren den Zolliker Kunstpreis erhielt, gaben die beiden an der Feier eine Kostprobe. Reto Hännys Worte in Haupt- und Nebensätzen klingen im Rhythmus von Schlaginstrumenten, als wäre die Musik der Herzschlag seiner Geschichten.

Zuerst der Neni, dann Cla Biert

Der Buchautor berichtet von seinem Grossvater, dem Neni, der ihm, wenn es eindunkelte, auf der Alp uralte Sagen und Gespenstergeschichten erzählte, nicht aber, um dem Buben Angst zu machen, sondern weil Neni im Klopfen des Holzwurms den Tod hörte, den es zu bannen galt. Hännys Beschreibungen, wie er als kleiner Geisshirt bei jedem Wetter 100 Tiere in seiner Obhut hatte, sind so lebendig, als hätte er erst gestern die Geissen gehütet. Reto Hänny feierte am 13. April seinen 76. Geburtstag. Sein Werdegang ist ein Stück Schweizer Kulturgeschichte, da er aus dem Walser Dorf Tschappina im Kanton Graubünden stammt. Er bedauert es, dass die Kultur der Walser nie die gleiche Anerkennung erfahren hat wie jene der Rätoromanen.

«Eigentlich sollte ich Pfarrer werden, da es in unserer Familie in jeder Generation einen Lehrer oder Pfarrer gegeben hatte», sagt Reto Hänny. «Aus diesem Grund erteilte mir der Dorfpfarrer Lateinstunden.» Aber er träumte davon, Künstler zu werden und so wurde er statt Pfarrer vorerst Lehrer – trotz einer traumatischen Erfahrung zu Beginn seiner Schulzeit: «Der grundgütige Primarlehrer hat mir am ersten Schultag die linke Hand an der Bank festgebunden», erinnert er sich. Mit dieser Radikalkur sollte er zum Rechtshänder sozialisiert werden. Die Sekundarschule durfte er in Chur beenden; dort lernte er nach dem Neni den zweiten für ihn entscheidenden Lehrer kennen, den rätoromanischen Schriftsteller Cla Biert. Dieser förderte ihn, gab ihm Selbstvertrauen und sagte: «Purscht, du muesch eifach läse.»

Ein neues Kapitel öffnete sich in Reto Hännys Leben. «Gewissermassen als Medizin gegen meine Legasthenie verordnete mir Biert die Romane von Kafka, ‹Die Blechtrommel› von Günter Grass und den ‹Ulysses› von James Joyce.» Letzterer stand aber auf dem katholischen Index und durfte in der Bischofstadt einem Schulbuben nicht ausgeliehen werden. Also hat ihm der Lehrer sein persönliches Exemplar gegeben. «Ich habe mich durch das Buch gefressen, zuerst nichts verstanden, aber als im ­vierten Kapitel Leopold Blum Frühstück für die Gattin vorbereitet und die Katze füttert – da machte es Klick: Ich hatte sofort unsere Katze in Tschappina vor Augen, die auch mal ein Stuhlbein anpinkelte, wenn man ihr keine Aufmerksamkeit schenkte.»

Die Lektüreerfahrung des «Ulysses» fand Jahrzehnte später Eingang in Hännys literarischer Kurzfassung «Blooms Schatten». Für einen Schriftsteller gebe es drei unterschiedliche Gefässe als Inspira­tionsquelle: «Sie sind gefüllt mit Beobachtungen, Erfahrungen, wozu auch alles Gelesene gehört, und Fantasie.» Da es für die drei Tanks aber nur einen Hahn gebe, entstehe daraus eine einzigartige Mischung: Fiktion.

In jedem Lebensabschnitt hatte Hänny wichtige Lehrer, die in förderten. In der Mittelschule war es als Klassenlehrer Marc Eichelberg, ein enger Freund von Friedrich Dürrenmatt. Im Studium waren es Peter von Matt und Adolf Muschg – letzterer ein Zolliker.

Ein Walser Bergbub wird Autor

«Wenn der Piz Beverin als riesige Wand uns im Winter die Sonne frass und Grossvater sich nach ­Wärme sehnte, erzählte er mir,  was es dahinter alles zu sehen gab – Traumwörter wie das Meer, die Wüste und Afrika», sagt der Schriftsteller. «Riesig war die Enttäuschung als ich fünfjährig erstmals auf dem Gipfel stand und ausser einem Schimmer vom Bodensee nichts als Berge zu sehen waren.» Wieder zu Hause, schimpfte er Neni einen Flunkerer, der jedoch meinte, da müsse er halt hinter den nächsten Berg schauen und den übernächsten, und irgendwann werde er das Meer vor sich und auch die Wüste und Afrika haben.

Damit war schon früh Hännys Entdeckerlust geweckt. Nach seinem ersten Dienst als Lehrer in einem Bergdorf packte er seinen klapprigen R4 und bereiste Südeuropa, 1971 ging es über die Türkei und Persien nach Afghanistan. Von Kabul aus zog es ihn aber nicht nach Indien weiter, sondern in den Hindukusch. Ein Jahr später waren Nordafrika und die Sahara dran. Nebst fremden Landschaften inspirierten ihn immer auch Menschen.

Früh begann er zu schreiben. Reto Hänny war nicht überrascht, als er realisierte, wie sich in der Literatur ein Thema ständig wiederholte: Das vom Hansli, der in die Welt hinausgeht und das Fürchten und Staunen lernt. «Und wie oft diese Geschichte von der Odyssee bis zum Ulysses schon erzählt wurde, man kann sie immer wieder neu und anders erzählen», sagt er. In der Mittelschule wurde er als Walser Bergbub auch als Abkömmling vom Miststock verspottet: «Aber ohne Miststock gäbe es heute den Autor Hänny nicht», betont er.

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