Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 6. Juli 2023
Er gehört zum Dorfbild: Hussein Samatar. Fast täglich steht er mit der Strassenzeitung «Surprise» in der Zumiker Migros-Garage. Er lächelt zurückhaltend und freundlich. Zwischendurch hebt er Kassenbons und Einkaufszettel vom Boden auf, wirft sie in den Kübel. Ist eine Einkaufswagen-Schlange zu lang, sorgt er für Ordnung. Der gebürtige Somalier verkauft die «Surprise» gern in Zumikon. «Die Menschen sind sehr nett. Sie kaufen nicht nur, sie geben auch Trinkgeld. Das ist nicht überall so.»
Das Leben hatte für Hussein Samatar schon viele Überraschungen parat. Viele sind unschön. Sein Vater war einst ein fleissiger Mann. Er hatte nicht nur vier Ehefrauen und zeugte 28 Kinder, er besass auch viele Tiere und war angesehen im Dorf. Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens hütete Hussein als drittältester Sohn die Tiere, zuerst die Schafe und die Ziegen, ab dem 15. Lebensjahr durfte er auch die Kamele und Kühe versorgen. Der Vater besass immerhin 50 Kamele. «Als ich 20 war kam eine grosse Dürre, viele Tiere verhungerten oder verdursteten.» Hussein Samatar zog in die nächste Stadt. Die Sorgen des Vaters, dass er dort trinken und faul werden würde, waren umsonst. Der junge Mann war fleissig, fand sofort Arbeit und gründete eine Familie. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern entschied er sich für nur eine Ehefrau und wenige Kinder. «So konnte ich meinen vier Kindern eine gute Schulausbildung ermöglichen. Ein Sohn und eine Tochter sind mittlerweile Mediziner und leben in Kenia.» Schulausbildung ist ihm immer noch sehr wichtig und so schickt er regelmässig Geld nach Somalia, damit 15 Neffen und Nichten vor Ort die Schule besuchen können. «Dafür verzichte ich selber auf Ferien.»
Als in Somalia im Jahr 1999 der Bürgerkrieg ausbrach, musste er wieder fliehen und landete in seinem ersten Flüchtlingscamp. «In Kenia gab es keine Arbeit, keine Zukunft.» Er liess Frau und Kinder vor Ort und floh weiter über Äthiopien, den Sudan und Libyen nach Europa. Drei Jahre lang war er auf der Flucht; schliesslich kam er mit einem Boot in Italien an. «Auf dem Schiff waren wir 70 Männer und 20 Frauen. Eine von ihnen brachte auf dem Boot ein Kind zur Welt», erinnert er sich. Aber auch in Italien fühlte er sich nicht willkommen. Es habe keine Schlafplätze gegeben, keinerlei Unterstützung. Und vor allem gab es keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Geld, das die Familie in Afrika dringend brauchte. Hussein Samatar beschloss, noch weiter zu reisen. Er setzte sich in einen Zug nach Frankreich, von dort ging es in die Schweiz. Die ersten sechs Monate verbrachte er in einem Auffangzentrum. «Wir waren vier Männer in einem Raum mit zwei Etagenbetten. Später durfte ich in ein Zimmer für zwei Personen ziehen.»
Wenn er erzählt – an die Schlepperbanden und einen Transport durch die Wüste oder eben an die ersten Monate in der Schweiz – ist keine Wut oder Anklage in seiner Stimme. Er erinnert sich kurz, lächelt dann wieder und erklärt, wie froh er ist hier zu sein. Noch während der Zeit in der Asylunterkunft fand er eine Arbeit in einem Restaurant. Er wischt die Böden, spült die Teller. Noch immer hat er diesen Job. «Tagsüber verkaufe ich die Strassenzeitung, am Abend putze ich. Am Sonntag putze ich dann mein Appartement und wasche meine Wäsche.» Er lebt mittlerweile in eigenen vier Wänden: einem 1-Zimmer-Appartement ohne Küche neben dem Zürcher Hauptbahnhof. «Ich suche schon länger eine Wohnung mit einer Küche. Aber es ist sehr schwierig.» Viel Geld für die Miete kann er nicht ausgeben. Parallel spart er ja auch noch. Vor 13 Jahren hat er seine Kinder zum letzten Mal gesehen. Gerne würde er nochmals nach Kenia fliegen. Immerhin telefoniere er jeden zweiten Tag mit Töchtern oder Söhnen. Mittlerweile ist der 48-Jährige auch schon Grossvater von acht Enkelkindern, die er gerne sehen würde. Und deswegen steht er mit seiner Papp-Unterlage (für schlechtes Wetter) in der Garage und hofft geduldig auf Kundschaft.
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