Von Franca Siegfried ‒ 31. August 2023
«Trunkenheit am Steuer ist sicher gefährlich, aber wie gefährlich ein zwar nüchterner, aber sterbensverliebter Grossvater am Steuer eines Autos ist, weiss die Polizei zum Glück noch nicht», schreibt Erich Schwyn in einem Essay mit dem Titel «Frühling im Herbst». «Nach jahrzehntelanger Ehe, die immer besser wurde und mit dem Tod meiner Frau endete, und einiger Single-Jahre bin ich nun verliebt wie ein Primaner.» Es war Liebe auf den ersten Blick im Jahr 1993. Heute lebt er mit Elfi Scheidegger in einer lichtdurchfluteten Attikawohnung mitten in Zollikon mit Sicht auf den See. Auf dem runden Esstisch liegen Bücher, die neugierig machen, etwa «Der Frosch und die Finanzwirtschaft – Die Schrift für die Vernachlässigten und Betroffenen». Erich Schwyn schreibt über die Finanzkrise vom Jahr 2008, sucht nach Erklärungen, wie es soweit kommen konnte, und nach unkonventionellen Lösungen. Das erste Kapitel beginnt am Paradeplatz, den er aus der Froschperspektive «Zasterplatz» nennt. Publiziert hat er das Buch 2012 – ungewöhnliche Gedanken, die heute noch aktuell sind.
«In meiner Klasse haben jeweils alle die Prüfung bestanden.»
Erich Schwyn, 1934 geboren, gehört zur Generation ohne Chance auf eine Berufsmaturität. «Wache Geister» mussten damals als Autodidakten ihren Wissensdurst sättigen. Erst in den 1980er-Jahren wurde diese Maturität im Berufsbildungsgesetz verankert. Nach der Lehre als Tiefbauzeichner begann sein Werdegang als technischer Mitarbeiter im Marmorera Kraftwerk und Leiter in einem Baugeschäft im Engadin. Mit seiner ersten Frau Hanny gründete er eine Familie. Der Alltag mit vier Töchtern war voller Leben. Die Familie zog nach Zürich, wo er seine Kindheit verbracht hatte. «Ich arbeitete als Kalkulator, Bauleiter in diversen Architekturbüros», erzählt er. «Dabei habe ich mir Statik, Bauphysik und Grundzüge der Architektur beigebracht.» Er hat gelesen, gefragt, beobachtet – und absolvierte 1966 die Prüfung als Architekt im Berufsverband Swiss Engineering STV. Bald danach unterrichtete er an der Gewerbeschule für Hochbauzeichner. «In meiner Klasse haben jeweils alle die Prüfungen bestanden», sagt er stolz. «Dabei sind mir die jungen Menschen ans Herz gewachsen.» Später war er Dozent für die Ausbildung zum eidgenössisch diplomierten Bauleiter am Institut für Berufsbildung in Zürich, Bern und Basel. Mit dem Nachdiplomstudium zum Wirtschaftsingenieur vertiefte er seine technische Ausbildung und Erfahrung mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, etwa wie sich Produktivität, Rentabilität und Qualität ergänzen können. «Das beginnt schon mit Details, beispielsweise bei Sonnenschein den frischen Beton mit Blachen abdecken, damit er langsam ohne Haarrisse abtrocknen kann», sagt der Baufachmann. «Als Architekt machte ich keine grossen Würfe, für mich stand die Konstruktion an erster Stelle, erst danach kam die Ästhetik – Schönheit bedeutete für mich Funktionalität.» In den letzten Jahren vor der Pensionierung betreute er Asylbewerber und lehrte sie Deutsch.
Der Ruhestand bremst Erich Schwyn nicht in seinem Schaffen. Er ist ein Frühaufsteher geblieben, viele Jahre stand er vor sieben Uhr auf der Baustelle, besprach sich mit dem Polier. Seine Frau Elfi mag diese Morgenstunden nicht besonders. Also einigten sie sich und er verzieht sich im Morgengrauen in sein Büro. Er liest philosophische Werke, schreibt Zusammenfassungen und schuf über die Jahre eine umfassende Datenbank mit Zeittafeln und Stichworten, etwa über die Geschichte des politischen Denkens. Oder er verfasste während der Pandemie einen «Menschspiegel» mit soziologischen Gedanken über das Denken, Schweigen, Sprechen, auch über Klatsch, Halbwahrheiten, Kritik, Vorbilder – wie Menschen zwischen Demut oder Egomanie wählen können. Erich Schwyn schrieb auch ein Gesellschaftsmärchen mit dem poetischen Titel «Im Namen des Gänseblümchens».
«Ich geniesse es, mich weiter positiv-kritisch zu äussern.»
Am 85. Geburtstag im Oktober 2019 feierte ihn die Familie im Hotel Sonne in Küsnacht, seine Frau Elfi, die vier Töchter mit den sechs Enkelkindern. In der Geburtstagsrede betonte er: «Ich geniesse es, mich weiter positiv-kritisch zu äussern. Vom Bundessekretariat kriege ich interessante Antworten auf meine Briefe. Da wird der Souverän der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Bürger dieser Demokratie, ernst genommen.» So schickt er denn unermüdlich Leserbriefe an Zeitungsredaktionen, auch an den Zolliker Zumiker Boten und an die Bundeskanzlei. Er mahnt, den jungen Menschen, dem Rohstoff der Schweiz, Sorge zu tragen, ihnen Wissen zu ermöglichen und nicht nur dem «schnöden Mammon» nachzujagen. Mit der Gier nach Geld sei die Wissensgesellschaft gefährdet. Wer die Lebensgeschichte dieses Mannes hört, der sich alles selber beigebracht hat, versteht seine Ernsthaftigkeit. Und bedauert, dass solche Stimmen im digitalen Informationsrausch verstummen. Sie hätten uns viel zu sagen; die Strukturen der Menschen bleiben ja immer dieselben, egal wie sich die Kulisse auf der Bühne des Lebens verändert.
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