«Ich kann dich immer noch stressen, glaub mir»

Von Aline Sloksnath ‒ 9. November 2023

Er ist im Zollikerberg zu Hause und ist wohl einer der erfolgreichsten Rapper der Schweiz. Eine Begegnung im Stress.

Kein Fan von Smalltalk: Rapper Stress hatte noch nie Probleme, über seine Gefühle zu sprechen. (Bild: Nicole Rötheli)
Kein Fan von Smalltalk: Rapper Stress hatte noch nie Probleme, über seine Gefühle zu sprechen. (Bild: Nicole Rötheli)

Montagnachmittag, eine Bar am Zürcher Bellevue. Andres Andrekson alias Stress trägt schwarze Anzugshosen, einen schwarzen Rollkragenpullover, Cap und Bomberjacke. Ich bin nervös. Er trinkt Schwarztee und erzählt von seiner Karriere und seinem Leben. 1977 kommt er im von der Sowjetunion besetzten Estland zur Welt. Mit zwölf dann die Flucht in die Schweiz: Lausanne, Gymnasium, Wirtschaftsstudium, französischer Rap. 2003 veröffentlicht er sein erstes Soloalbum. Seither ist er aus der Schweizer Musikszene nicht mehr wegzudenken. Heute streamen 123 000 Personen jeden Monat seine Songs auf Spotify. Den Künstlernamen Stress gab ihm sein ­Umfeld: «Ich war ein stressvoller Mensch. Ich kann dich immer noch stressen. Glaub mir. Aber ich behandle mich heute besser.»

Stress tritt selbstbewusst auf. Er ist ruhig, direkt. Nicht nur in seiner Musik, auch in Interviews und in seiner Biografie «179 Seiten Stress» lässt er tief blicken. Er redet über alles, was er will. Ungeschönt erzählt er von seiner Kindheit, seinem gewalttätigen Vater, seiner Depression, seinen Suizidgedanken, seiner Therapie. Zeigt er sich verletzlich in einer Szene, die auf Aussenstehende oft prollig und laut wirkt? «Weisst du, die Menschen wissen, woher ich komme, was ich erlebt habe, was ich mache. Es ist ehrlich», kontert er die Frage. In der Hip-Hop-Kultur sei die Authentizität das Wichtigste. «Und ja, es gibt Leute in unserer Kultur, die laut sind, laute Kleidung tragen, laute Autos fahren. Das ist nur Fassade. Es kompensiert das, was du nicht hast.»

Im Coop kennt man ihn

Der Zufall brachte ihn vor 16 Jahren nach Zollikon. «Wir haben ein Haus im Zollikerberg gemietet; später haben wir dann eines gekauft.» Mit wir meint er seine Ex-Frau ­Melanie Winiger und sich. 2011 ging die Ehe in die Brüche, der ­Musiker blieb im Haus. «Es ist die perfekte Location. Es hat Natur, die Stadt ist zehn Minuten entfernt, der Flughafen nur eine halbe Stunde. Der Zollikerberg ist zentral für meine Arbeit.»

Im Coop kennt man ihn. «Ich bin ein Gewohnheitsmensch. Und die Menschen, die im Coop arbeiten, sind seit Jahren die gleichen. Man kennt sich vom Sehen.» Schauen die Leute, wenn sie einen der ­bekanntesten Schweizer Musiker ­unserer Generation zwischen Rüebli und Orangensaft sehen? «Nein», erwidert er lachend. «Jeder weiss, dass ich da wohne.» Als Zolliker fühle er sich aber nicht. «Ich gehöre zu der Generation Menschen, welche irgendwo wohnen, aber nicht zu jeder Chilbi gehen. Mir ist es egal, wo ich bin, solange ich das machen kann, was ich will.» Sein Wohnort gibt Stress Unabhängigkeit, die ist ihm wichtig: «Flexibilität ist der Nachbar von Freiheit.» Er fühlt sich wohl in seiner Wahlheimat. «Und übrigens, ich finde es hier so grossartig, ich würde in der Region gerne eine Wohnung für meine Mutter kaufen. Wer das liest und etwas weiss oder sogar frei hat, der schreibe mir auf Instagram.»

Stress, der Macher

Stress ist im Promostress. Am 10. November, erscheint sein «MTV Unplugged»-Album (siehe Box). Nächsten Frühling geht er ­damit auf Tour. Diesen Sommer hat er die Songs an zwei Konzerten im Zürcher Schiffbau vor vollen Rängen aufgenommen. Nach Patent Ochsner ist er der zweite Schweizer und der erste frankophone Musiker überhaupt, dem diese Ehre zuteil wird. Der Stolz ist Stress anzumerken, wenn er über diese einmalige Erfahrung spricht: «Die zwei Nächte, in denen wir aufgenommen haben, waren magisch.» 25 Menschen vor und 75 hinter der Bühne haben das Projekt möglich gemacht. «Ich bin geehrt und dankbar, dass sie alle so viel Energie reingesteckt ­haben.» Stress ist Generation MTV, ist mit «MTV Unplugged» gross geworden. Auf der Wunschliste des Künstlers stand dieser Meilenstein aber nicht: «Ich habe keine To-Do-Liste. Das interessiert mich nicht. Ich habe auch nicht unbedingt ­einen Traum. Wenn ich etwas will, dann versuche ich alles, um das machen zu können.» Zwanzig Jahre Solokarriere, vier Alben auf Platz eins der Charts, dreimal Gold und zweimal Doppelplatin beweisen das. Auf dem neuen Album hören wir seine grössten Hits unverfälscht, fast ohne Strom und neu arrangiert. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch sein Leben als Stress, durch sein Leben als Andres Andrekson. Zwei Jahrzehnte komprimiert auf einem Tonträger. «Es war toll. Viele Challenges, viele ­Höhepunkte, auch Frustration – ein bisschen von allem. Doch das Wichtigste ist, dass ich an einem Ort in meinem Leben bin, wo ich immer noch Bock habe, Musik zu machen.» Dem Stress vor zwanzig Jahren würde dies gefallen. «Aber er kennt den Preis nicht.» Sein ­Leben im Rampenlicht kostete nicht wenig: «Liebe, Freunde, Zeit, Emotionen – alles, was du auf den Tisch legen kannst, hat es genommen. Aber es hat sich gelohnt. Und es war meine Entscheidung.» Auf die Frage, ob er alles nochmals so machen würde, kommt die klare Antwort: «Absolut.»



Der Ritterschlag: Seit 1989 produziert der Musiksender MTV die Konzertreihe «MTV Unplugged». Dabei interpretieren Künstlerinnen und Künstler ihre Lieblingshits neu – akustisch und fast ohne Strom. In intimer Atmosphäre werden die Konzerte live aufgezeichnet. Grössen wie Mariah Carey, Eric Clapton, Nirvana, Herbert Grönemeyer oder die Fantastischen Vier reihen sich ein, nur um einige zu nennen. In der Musikbranche kommt ein «MTV Unplugged»-Auftritt einem Ritterschlag gleich.

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