Von Franca Siegfried ‒ 23. August 2024
Das Gespräch beginnt nicht etwa über Frömmigkeit, Nächstenliebe, ihren Weckruf zur Diakonie oder ihre Verantwortung als Oberin. Die Diakonissin beschreibt, wie sie die politische Situation in den USA einschätzt. Spricht über den Streifschuss am Ohr von Donald Trump. Und wie Joe Biden gegen seine Altersmüdigkeit kämpft. Mit Loslassen und Macht abgeben täten sich beide Männer schwer – wie viele. Margrit Muther, so heisst sie mit bürgerlichen Namen, sitzt im Museum des Diakoniewerks Neumünster – Gesundheitswelt Zollikerberg, im Erdgeschoss des Brunnenhofgebäudes. Das Diakoniewerk wurde 1858 am Hegibachplatz in Zürich eröffnet. Die Schweizerische Pflegerinnenschule und das Diakoniewerk Neumünster vereint eine ausserordentliche Geschichte gesellschaftlicher Entwicklung der Frauen. So verlangten sie schon 1896, am ersten Frauenkongress der Schweiz, eine Professionalisierung der Pflegeausbildung und eine allgemeine Besserstellung der Frau. Schwester Margrit holte als Ergänzung eine Tafel mit den wichtigsten historischen Eckpunkten aus dem Archiv. Ihr ist es wichtig, die Diakonissen-Schwesternschaft Neumünster zu erklären. 1933 zog die Gemeinschaft mit einem kleinen Spital vom Hegibachplatz nach Zollikerberg. Schon 13 Jahre später lebten in der Gemeinschaft 575 Diakonissen. «Heute sind wir noch 15 – alle über 80 Jahre alt bis auf eine.» Schwester Margrit hat ihren 80. Geburtstag vergangenen Juni gefeiert. Dabei erfüllte sie sich einen Wunsch: «Die zehntägige Fahrt auf der Donau ans Schwarze Meer. Auf Deck sitzen, die Landschaft an sich vorbeiziehen lassen, wunderschöne Seidenreiher beobachten und einfach dankbar sein, dass ich diese Flussfahrt noch erleben darf.» Wegen des Kriegs in der Ukraine war jedoch die klassische Route im Donaudelta nicht möglich. Sie fragt sich besorgt, was Wladimir Putin im Weltgeschehen noch alles anrichten wird.
Margrit Muther ist an der Ecke Münchhalden-Seefeldstrasse aufgewachsen und verbrachte die Schulzeit in Zürich: «Handarbeit hat mir nie gefallen», erzählt sie. «Warum ich Unterhosen nähen sollte, sogar mit Beinen …» Eigentlich wollte sie Lehrerin werden. Aber ihr Sekundarlehrer vermieste ihr den Traumberuf wegen der Französischnoten. «Mein Vater tröstete mich, auch er sei kein Sprachgenie gewesen.» Sie entschloss sich für eine Kaufmännische Lehre in einer Werbeagentur. «Ich pedalte drei Jahre lang mit dem Velo über die Quaibrücke ins Enge Quartier.» Nach Lehrabschluss besuchte sie ein Schnupperwochenende im Zollikerberg für die Ausbildung zur Krankenschwester. Als sie erfuhr, dass es eine Warteliste für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester gab, reiste sie als Au-pair in eine Gastfamilie nach England. Während dieses Jahres wurde ihr bewusst, dass sie gerne mit und für Menschen arbeitet. «Als Büroangestellte immer nur Papier bearbeiten, das war nicht meine Erfüllung.» Und sie träumte durchaus auch vom Heiraten: «Ich wünschte mir 13 Söhne, damit wir eine eigene Fussballmannschaft gründen könnten», verrät sie mit einem schelmischen Lachen. Als ausgebildete Krankenschwester unterrichtete Schwester Margrit zehn Jahre lang junge Frauen in allgemeiner Krankenpflege. Erst mit 38 Jahren zog es sie zur Diakonissen-Gemeinschaft. Zuerst auf Probe, danach mit Einsegnung: «Ich verschenkte meine Kleider und zog die Tracht an.» Sie erzählt, dass sie schon als Mädchen Trost beim Beten fand, etwa als eine Schulfreundin ihr die Freundschaft kündigte: «Für mich war es damals ein Drama.» Die Nähe zu Gott hat sie in ihrem Alltag begleitet. Evangelische Diakonissinnen sind in eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft integriert, die sie im Gegensatz zu katholischen Nonnen wieder verlassen können. Diakonie – im Dienst hilfebedürftiger Menschen – in diesem Sinn hat sie im Spital Zollikerberg gewirkt. Und mit 56 Jahren auch noch die Verantwortung als Oberin der Schwesternschaft übernommen.
Schwester Margrit sitzt auf einem senfgelben Sofa aus der Gründerzeit. Eine sportliche Erscheinung in dunkelblauer Hose, passenden Sneakers und bunter Bluse. Ihr Haar kurz geschnitten, eine metallene Brille in türkis. Nein, nein, die Tracht mit Kopfbedeckung trage sie seit der Pensionierung nicht mehr. Sie habe keine offizielle Funktion mehr. Sie war 68, als sie nach 12 Jahren das Amt als Oberin der Gemeinschaft zurückgab. Die Aufgabe habe ihr Freude bereitet. Sie sei oft an Kongresse gereist und engagierte sich auch im Stiftungsrat Diakoniewerk Neumünster. Diese Funktion hat sie erst vor drei Jahren abgegeben. Sie wollte wissen, was in Zukunft im Zollikerberg geschehen wird. Der Raum für Gesundheitsdienstleistung, Wohnen, Arbeiten und Bildung bleibe erhalten, werde jedoch baulich wie gestalterisch während der nächsten zehn Jahre weiterentwickelt. Lange hegte sie auch den Wunsch nach einem Vierbeiner als Begleiter. Als sie pensioniert war, kam Nori aus Ungarn. Die Strassenhündin und Schwester Margrit waren unzertrennlich – bis Nori altershalber starb. «Je älter ich werde, desto intensiver spüre ich eine grosse Dankbarkeit für das, was ich auf meinem Weg alles tun und erleben durfte.»
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