Von Franziska Müller ‒ 30. August 2024
Zu unserem Treffen bringt Erika Lindt ein sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagenes Buch mit. «Damit Sie sich ein Bild machen können», sagt sie und lächelt, wie fast immer. Das in rotes Leder gebundene Album ist eine Sammlung aus Zeitungsausschnitten und persönlichen Textpassagen, Postkarten, Bildern und Familienfotos. Die Auslegeordnung eines Lebens in chronologischer Ordnung.
«Als ich ein Kind war, wohnte ich auf dem Uetliberg. Ich sah die Flugzeuge ganz nah über unser Haus fliegen», erzählt Erika Lindt. Sie war fasziniert von den silberglänzenden Propellermaschinen, die majestätisch schwerelos über ihr vorbeizogen – und beseelt vom Wunsch, an Bord zu sein. So fasste sie als Achtjährige den Entschluss, mindestens Stewardess zu werden. Wie um diese Idee zu manifestieren, malte sie detailreiche Bilder mit Farbstift. Man sieht sie mit blonden Haaren lächelnd in blauer Uniform, umgeben von winkenden Menschen auf der Gangway, in und vor grauen Flugzeugbäuchen.
Sie schaffte es. Als jüngste Teilnehmerin bestand sie mit 21 die Aufnahmeprüfung der edelsten Fluggesellschaft der Welt, die damals Swissair hiess, und absolvierte den strengen, dreimonatigen Ausbildungskurs. Sie wurde zur Vorzeige-Stewardess. Als die «Elle» 1965 den europäischen Wettbewerb zur Krönung der «Idealen Hausfrau» ausschrieb, war sie als Begleiterin der Schweizerinnen mit an Bord. Dank ihren Italienischkenntnissen stand sie am Austragungsort Montecatini plötzlich allabendlich mit auf der Bühne und unterstützte als Übersetzerin den populären Moderator Corrado Mantoni. Am Ende des Wettbewerbs verlieh ihr die Jury den Titel «La più simpatica accompagnatrice» und ehrte sie mit einem silbernen Pokal.
Was leicht tönt, ist hart erarbeitet. Zum Profil der Stewardess gehörten eine abgeschlossene Berufsausbildung und fliessendes Sprechen von Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. «Mein Vater, ein umtriebiger, gut vernetzter Gastronom, glaubte an meinen Erfolg. Er förderte mich unablässig.» Sie zählt die Stationen auf, die sie auf sein Geheiss durchlief. Sie spricht leichtherzig, ohne zu klagen. Eher wirkt sie verwundert, wenn sie sich an die gesellschaftlichen Bedingungen erinnert, die damals selbstverständlich waren und ihren Weg, auch ihr Verhalten bestimmten. «Ich fühlte mich als Frau aber nie benachteiligt.» Was vor allem mit ihrem geliebten Mann Beat zu tun hatte. Sie seien ein partnerschaftliches Team gewesen: «Wir entschieden alles gemeinsam.» Dazu gehörte auch, dass sie nach nur zwei Jahren ihren zweiten Beruf als Stewardess aufgab, um mit ihrem Mann in ihrem ersten Beruf als Hotelière in der Luxusgastronomie durchzustarten. Die Chance kam 1967 mit dem renovationsbedürftigen Castello del Sole in Ascona. «Die Besitzer des Hotels glaubten an uns; wir waren ein bestens ausgebildetes, junges Direktionspaar mit einer Vision», erinnert sie sich. Das Geld wurde gesprochen, ihre Pläne Schritt für Schritt verwirklicht. Aus dem heruntergekommenen Hotel am See wurde ein luxuriöses Bijou. In den Wintermonaten wurden aufwändige Umbauten durchgeführt; es kam ein Hallenbad mit Aussenbassin dazu, ein überdachter Tennisplatz ergänzte die Gartenanlage. Der Ruf des Castello strahlte weit über die Kantonsgrenze hinaus.
Erstmals in der Geschichte des Locarno Film Festivals war 1974 mit Willi Ritschard ein Bundesrat zur Verleihung des goldenen Leoparden eingeladen. Er logierte mit seiner 16-köpfigen Entourage im Hotel von Erika und Beat Lindt. Strahlend erinnert sie sich an seine Einladung zum Apéro. Es folgten noch viele Anlässe «in intimer Runde» mit Prominenz aus Kultur und Politik. Mit jedem Jahr vergrösserte sich der Tisch im Park um ein paar Plätze; die Tafelrunde während des Festivals wuchs auf über vierzig Personen an. Als Höhepunkt erlebte Erika Lindt das Treffen mit Elisabeth Kopp, die 1985 als erste Frau die Schweizer Landesregierung in Locarno repräsentierte. Und als 1993 Helmut Kohl im Castello logierte, begleiteten ihn Ruth Dreifuss und zwei weitere Bundesräte. Das Ehepaar Lindt wurde stets dazu gebeten; zahlreiche Fotos im roten Erinnerungsbuch zeugen von ihrer Zugehörigkeit zur eleganten Runde.
Sie hätten viel und streng gearbeitet, «die Tage waren lang im Hotelgewerbe.» Der Erfolg beflügelte sie, hatte aber seinen Preis. Sie erinnert sich, dass mitten in der ersten Sommersaison ihr erster Sohn auf die Welt kam. Zum Glück waren ihre Mutter und ein Kindermädchen zur Stelle; erst im Spätherbst konnte sie sich wirklich ihrem Kind widmen. Zwei Jahre später, diesmal bei geschlossenem Hotel, kam ihr zweiter Sohn zur Welt. «Unser Leben war dem Rhythmus der Tourismusbranche unterstellt.» Während der Saison, im Frühling und Sommer, seien sie fast Tag und Nacht für ihre Gäste und die Mitarbeitenden im Einsatz gewesen. Mit der Verabschiedung der letzten Gäste zum Saisonende begannen sofort die Vorbereitungen für den nächsten Umbau. «Dann war mein Mann mit der Bauführung beschäftigt – also eigentlich immer.» Sie aber konnte kürzertreten. «Die Zwischensaison erlaubte es mir, zu normalen Bürozeiten zu arbeiten,» erinnert sie sich. Und auch daran, dass sie in den Wintermonaten mehr Zeit mit den Kindern verbringen konnte, was sie liebte.
Nun ist Erika Lindt über achtzig und blickt zurück. Wir blättern in der Chronik, die sie während der vergangenen vier Jahre, seit dem Tod ihres Mannes, zusammengestellt hat. Ein Kaleidoskop des Lebens: bunt, schillernd, grossartig, kleinteilig, reich. Zufällig bleibt die Seite 259 aufgeschlagen. «Back to the roots, die Geschichte wiederholt sich», steht da, neben dem Foto einer silberglänzenden Propellermaschine und Zeitungsausschnitten: «Ein undenkbarer Höhepunkt in meinem Leben.» Ihr Mann hatte sie am 2. Mai 1997 mit einem historischen Flug von Genf-Cointrin nach New York überrascht. In der langsamen und doch schwerelosen DC4, in die sie sich als kleines Mädchen hineingeträumt hatte.
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