Von Franziska Müller ‒ 6. September 2024
Janine Sutter wollte schon immer Tierärztin werden. Es dauerte jedoch eine Weile, bis sie sich zugestand, ihrem Herzenswunsch zu folgen und den «allzu grossen Respekt vor der Uni» zu relativieren und den Glauben an sich selbst zu finden. Zuerst studierte sie an der Pädagogischen Hochschule in Zürich und wurde Primarlehrerin. Auch dieser Beruf war Berufung, wenn auch nicht allererste Wahl. Sie hatte als Primarschülerin erlebt, wie prägend eine Lehrperson sein kann – im Guten wie im Schlechten. «Ich hatte die ersten drei Jahre einen super Primarlehrer in Schwamendingen», erinnert sie sich. «Ein überdurchschnittlich guter Mensch, der die sozialen Interaktionen im Schulzimmer gleich gewichtete wie den Lehrstoff. Ungerechtigkeiten – oder empfundenes Unrecht – hat er stets angesprochen und geklärt.» Dadurch habe er Herzensbildung betrieben und geholfen, den moralischen Kompass der Kinder zu justieren.
Sie war eine gute Schülerin und ging liebend gern zur Schule. Ihre erste Berufswahl erfolgte deshalb nicht «contre cœur»; sie wollte weitergeben, was sie als junges Kind beflügelt und gestärkt hatte. Und nicht zuletzt zukünftigen Schülerinnen und Schülern ersparen, was sie in Folge eines Schulwechsels als emotional belastend empfunden hatte. Nach dem Umzug an den Zürichberg und dem Klassenwechsel kam ihr zeitweilig das Selbstvertrauen abhanden. Die neue Lehrperson setzte andere Massstäbe. Kinder ohne akademisches Elternhaus hatten weniger Chancen auf gute Noten.
Als Janine Sutter als frisch ausgebildete Primarlehrerin unterrichtete, war sie sich bewusst, welche Wirkung sie in ihrer Rolle auf die Kinder hatte. Ihr oberstes Prinzip war deshalb, im Geiste ihres ehemaligen Lehrers zu unterrichten – wertschätzend und aufbauend. Mit ihrem Mantra «ihr könnt alles erreichen, was ihr wirklich wollt», stärkte sie den Glauben der Kinder an sich selbst. «Es dauerte einfach eine Weile, bis diese Botschaft auch in meinem Kopf angekommen ist», sagt sie und lacht.
Nach dem Abschluss an der PHZH unterrichtete sie kurz als stellvertretende Lehrerin, bis ihr dämmerte, dass sie der Berufung als Tiermedizinerin gewachsen ist. Sie absolvierte sogleich den Numerus Clausus und qualifizierte sich für den begehrten Studienplatz an der Universität Zürich. Sechs Jahre dauerte die Ausbildung zur Tierärztin; es war ein steiniger Weg. Nicht wegen der strengen Berufspraktika, der überlangen Schichten und anspruchsvollen Inhalte. Das Fehlen sozialer und emotionaler Bildung machte ihr zu schaffen. «Kein Miteinander wird in diesen Hallen gelehrt, sondern das Konkurrenzdenken gefördert.» Sie erinnert sich an eine Begebenheit im Vorlesungssaal. Viele Studenten drängelten sich um einen Tisch. Statt einen Schritt zurückzutun, empfahl der Professor «die Ellbogen auszufahren». «Schlimm», sagt Janine Sutter: «Auf diese Weise lernen die jungen Mediziner zu kämpfen, statt füreinander da zu sein. Viele fühlen sich mit dem emotionalen Druck, der in der Branche herrscht, allein gelassen.» Die Konfrontation mit Leiden und Sterben ist allgegenwärtig; in der Tiermedizin ist der Tod fünfmal häufiger wie in der Humanmedizin. Es gibt Burnouts, die Suizidrate ist hoch.
In der Tiermedizin gehe es wie in der Humanmedizin in erster Linie um das Einfühlungsvermögen in ein anderes Wesen. Deshalb sei es auch so wichtig, seiner eigenen Gefühle bewusst und eine gute Kommunikatorin zu sein, betont die bald 39-Jährige. Sie könne mit ihrer medizinisch geprägten Sichtweise viel zum Verständnis zwischen Tier und Mensch beitragen. Aus Tierliebe allein soll niemand Tierärztin werden; in erster Linie hat man mit Menschen zu tun – mit Tierhalterinnen und -haltern, die man emotional abholen muss. Tiere können für Menschen einen enormen Stellenwert haben; geht es dem Tier schlecht, geht es diesen Menschen genauso. Auch das muss man ertragen können. Tierpatienten brauchen viel mehr Care-Arbeit, als das Jobprofil beschreibt. Sie kommunizieren auf ihre eigene Weise; deshalb brauchen sie liebevolle Übersetzer.
Janine Sutter lebt seit einigen Jahren im Zollikerberg. Der Dorfcharakter und das Nachbarschaftliche gefallen ihr besonders; zudem sei hier ein guter Ausgangspunkt für ihre täglichen Spaziergänge. Seit 2017 ist sie in einer Kleintierpraxis in Adliswil als leitende Tierärztin angestellt. Der Arbeitsweg ist zwar lang, aber «er passt schon». Die räumliche Distanz sei gut für ihr mentales Gleichgewicht, denn auf dem Heimweg könne sie «entkoppeln». Ihr Spezialgebiet ist die Tier-Zahnmedizin. Unter anderem macht sie Zahnwurzelbehandlungen bei Hund und Katze. Tatsächlich gibt es auch Zahnspangen für Hunde. Es gehe aber nie um Schönheit wie bei den Menschen, sondern um Schmerzfreiheit. Fehlstellungen können erheblichen Schaden anrichten.
Ein erfolgreicher Tag für Janine Sutter ist, wenn sie abends in den Spiegel schauen und ein paar Dinge aufzählen kann, die sie gut gemacht hat. «Wenn es auch nur einer Seele besser geht als vorher, konnte ich in meinem Mikrokosmos etwas Gutes bewirken.» Und auf die Frage, die sich hier aufdrängt, ob denn die Tiere eine Seele haben, antwortet sie. «Ja natürlich. Hundertprozentig.» Die Beziehung des Menschen zum Tier liesse sich aber mit einer zwischenmenschlichen Beziehung nicht vergleichen. Es sei eine andere Ebene, die sich erfahren lässt. Ein Tier sei wie eine Art Katalysator. «Seine Anwesenheit hilft, uns seelisch weiterzuentwickeln.» Denn, so glaubt Janine Sutter, «wir müssen uns so verhalten, dass wir in einem nächsten Leben mit vertauschten Rollen zurechtkämen».
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