Eine Frage der Perspektive

Von Franziska Müller ‒ 13. September 2024

Bruno Heller im Garten des Ortsmuseums: «Mir ist nicht egal, was um mich herum ist.» (Bild: frm)

«Wie wollen wir miteinander leben?» Auch wenn Bruno Heller, Leiter des Ortsmuseums Zollikon, die Frage rhetorisch stellt und diese sich auf seine Arbeit als Ausstellungskurator bezieht, ist sie doch bezeichnend für ihn selbst. Er liebt Fragen. Vor allem solche, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Wir sitzen im Garten des Ortsmuseums unter einem gigantischen Haselstrauch. Hier im Schatten hat man einen guten Blick auf die Fassade des verwinkelten Hauses, in dem die Ortsgeschichte gehütet wird. Bruno Heller lacht und schüttelt den Kopf. «Die Gründungsmythen der Ortsmuseen sind überholt.» Zumindest würden sie in Frage gestellt. «Ein Ortsmuseum, einst abonniert darauf, Geschichte zu hüten, soll heute einladen, sich mit Identitäten auseinander zu setzen. Es soll lebendig sein und darf Spass machen.» Natürlich müssten die Gegenstände, die mit der lokalen Historie verknüpft sind, an einem geeigneten Ort aufbewahrt werden. Aber Museen hätten heutzutage andere Aufgaben: Es gehe unter anderem darum, Bezüge zu gesellschaftlichen Fragen zu finden. Gerne auf spielerische Art – indem man beispielsweise Fragen stellt. Und nicht (zu früh) mit Antworten aufwartet. Oder schlimmer noch: mit Belehrungen.

Wohin mit den Relikten?

Zollikon mit seiner Geschichte des Rebbaus besitzt zum Beispiel eine Menge altes Werkzeug, das für den Weinanbau gebraucht wurde: Weinfässer, Pumpen, wertvolle Relikte. «Heute interessieren uns nicht mehr so sehr die Gegenstände an sich, sondern die Geschichten dahinter», erläutert der Kurator. Fragen wie «Was hat man mit diesem Werkzeug gemacht?» oder «Wer hat es hergestellt und für wen?» sind Fragen, die ihn beschäftigten, denn bei seiner Arbeit gehe es um die Menschen hinter den Objekten. Um deren (Lebens-) Perspektive, deren Geschichte. Er ist überzeugt: «Ein Gärtner weiss mehr zu einer bestimmten Harke als ein Kunsthistoriker.» Aber früher habe man es meist verpasst, die Leute zu befragen. Fokussiert auf die Objekte selbst, sammelte man wie besessen materielle Dinge. Er nennt es «Objekt-Fetisch», diesen gebannten Blick auf den Gegenstand. Dessen Herkunft wurde oft vernachlässigt. Heute weiss man, wie wichtig die Umstände der Entstehung und der Besitzverhältnisse sind – und will die Perspektive derjenigen einnehmen, welche das Objekt gemacht haben und bedienen konnten. So liessen sich Lebensumstände verstehen und dieses spezifisch lokalgeschichtliche Wissen einordnen.

Die Vergangenheit lasse sich als etwas verstehen, das in Bewegung ist. Je nach Perspektive würden wir andere Fragen stellen, andere Aspekte beleuchten, andere Schlüsse zu gleichen Sachverhalten ziehen. «Es ist spannend, aber auch ein Dilemma, das man aushalten muss.» Gewissheiten in Frage zu stellen rüttle immer am Selbstverständnis. Für ein Ortsmuseum eine existentielle Frage. Gerade die inhaltlich verwandten ethnologischen Museen verändern sich stark. Es gehe nicht mehr darum, Schätze oder Reliquien aus anderen Welten, losgelöst vom Kontext, einem Publikum vorzuführen. «Heute wird ein anderer Diskurs geführt, wird darauf aufmerksam gemacht, wie sich Ausstellungsobjekte auf verschiedene Weise betrachten lassen.» Auch «der älteste Zolliker», dessen Gebeine seit Jahrzehnten im Keller des Ortsmuseums in einer steinernen Gruft liegen und der ab und zu von Schulkindern mit leisem Schaudern besichtigt wird, gehört in diese Kategorie. «Wir wissen noch nicht wohin mit ihm». Die Antwort auf die Frage, wo er wirklich hingehört, steht im Raum. «Vor dem Umzug an unseren neuen Standort in die Villa Meyer-Severini werden wir dies klären,» sagt er, mehr zu sich selbst. Man spürt, die Zeit der Zurschaustellung des Knochenmannes läuft aus.

Lebendige Ortsgeschichte auch im neuen Kulturhaus

Seit gut anderthalb Jahren ist Bruno Heller Museumsleiter. Im April 2024 hat er seine zweite Ausstellung eröffnet. Nach der eingekauften Wanderausstellung «A Mile in My Shoes», in der es um Empathie ging, handelt «Zollikon von oben» vom Wechsel der Perspektive. Auch in dieser Schau geht es darum, ­welche Perspektive wir in Bezug zueinander einnehmen; wie wir miteinander leben wollen. «Das Ortsmuseum soll ein Ort sein, in dem das Publikum in Interaktion mit dem Gezeigten tritt, Fragen stellt und dabei merkt, dass es hier Freiräume zum Denken und Diskutieren gibt. Ein Museum soll mehr Erlebnis sein und weniger erklären».

2026 zieht er mit dem Ortsmuseum in die Villa Meyer-Severini, ins neue Kulturhaus Zollikon. «Das Museum wird seinen Namen zwar aufgeben, sein Profil aber behalten. Das lokalgeschichtliche Wissen ist für mich zentral. Das Museum wird ein Ort der Entschleunigung bleiben. Jugendliche, Kinder, Expats – alle sollen hier lebendige Ortsgeschichte erleben.» In der ersten Ausstellung wird die beeindruckende Verlagsgeschichte der Schwestern Lili und Selma Steinberg zu entdecken sein, die um 1900 an der Schwendenhausstrasse in Zollikon gewohnt und gewirkt haben.

Wer ist Bruno Heller?

Auf die Frage, wer er denn sei, antwortet Bruno Heller: «Ich bin ein Mensch, dem nicht egal ist, was um uns herum geschieht. Die Frage nach der Identität sei auch eine ­Frage nach der Lebensphase. «Die Identität ist ja nichts Starres.» Seine Existenz als Familienvater sei eine andere als die des Studenten in Berlin; und als Praktikant nochmals eine andere denn als Kurator von Ausstellungen. Bruno Heller ist dieses Jahr 36 geworden. Der Vater zweier Kinder lebt seit zehn Jahren in Zürich. Er stammt aus Wiesbaden, hat in Berlin Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert und anschliessend an der ZHdK den Studiengang «Curatorial Studies» absolviert. Das zweijährige Praktikum am Museum für Gestaltung Zürich war für ihn ein Highlight in Sachen Fragen stellen, Diskurs anregen. «Im Hof des Grassi Museums in Leipzig», erzählt er lachend, «gibt es einen Kiosk, der leider immer geschlossen ist – den «Kiosk der einfachen Antworten». «Ist das nicht grossartig?» Seine letzte Frage ist keine Frage.

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