Von Franziska Müller ‒ 20. September 2024
Im Reisebus herrscht eine aufgeregte Stimmung. Auf der Fahrt von der Pfarrkirche St. Michael in den Aargau wird geplaudert und gelacht, man zeigt sich Fotos von besonders schönen Glocken auf dem Mobiltelefon. Die meisten der rund zwanzig Fahrgäste an diesem Freitag dem 13. kennen sich aus der katholischen Gemeinde. Alle eint die Vorfreude auf einen grossen Moment.
«Seit mehr als drei Jahren bereiten wir uns auf die Jubiläen der Pfarrei und Kirche St. Michael im Zollikerberg vor», erklärt Pascal Marquard, Pfarrer der katholischen Kirchgemeinden Zollikon und Zumikon. «Für uns ist das sechzigjährige Bestehen der Kirche und das fünfzigjährige Errichten der Pfarrei ein Grossereignis, dem wir mit der neuen Glocke zu noch mehr Strahlkraft verhelfen möchten.» Eine Kirchenglocke sei viel mehr als ein Klangkörper in einem Turm. «Sie ist ein Symbol der christlichen Kultur und ruft mit ihrem Klang in Erinnerung, dass wir von Gott geliebte Menschen sind.»
Seit vor etwa vier Jahren die Geläutetechnik im Kirchturm von St. Michael nach über fünfzig Jahren revidiert werden musste, nahm der Plan für eine sechste Glocke Gestalt an. Der Moment war günstig – während der Revision reinigte man nicht nur den Glockenturm, sondern demontierte auch alle Glocken. Für die Neuinstallation konnte der Platz zwischen der St.-Michael-Glocke, der Nummer 3 im Gestühl, und der St.-Paulus-Glocke auf Platz Nummer 4 freigehalten werden. Im Mai 2023 hiess die Kirchgemeindeversammlung das Vorhaben und die Finanzierung dafür gut.
Mit den Glockenexperten Fabian Thürlimann und Manuel Sestito wurde das neue Klangbild entworfen. Die neue «Bruder Klaus» wird mit ihrem a1-Klang nicht nur die Stimmen der anderen Glocken zu einem neuen sinnvollen Geläut ergänzen, sie wird auch mit dem der reformierten Kirche im Zollikerberg harmonieren, die rund vierhundert Meter entfernt steht. Alles ist geplant und berechnet, denn Lautstärke verpflichtet. Und doch lässt sich nicht alles steuern. Jede Kirchenglocke ist ein Unikat, das seine eigene Klangfarbe hat.
Entscheidend für den Ton einer Glocke sind deren Durchmesser, Höhe und Wandstärke. Je nach Grösse dieser Parameter verändert sich der Ton. Zudem bestimmt die harte Glockenbronze aus 79 Prozent Kupfer und 21 Prozent Zinn, dass der Klangkörper schön klingt und eine lange Abklingdauer hat. Jede Glocke hat etwa 50 Klangfarben, einen Grund-, Unter-, Prim-, Terz-, Quint-, Oberton und andere Töne, die in ihrer Gesamtheit den Ton bestimmen, den wir hören. Apropos Abklingdauer: Eine der berühmtesten Glocken der Welt, die 11,45 Tonnen schwere und 262 Zentimeter hohe «Gloriosa» aus dem Jahr 1497 im Dom von Erfurt klingt nach dem letzten Anschlag noch fünf Minuten nach. Die viel kleinere «Bruder Klaus» mit ihrem Gewicht von rund 450 Kilo wird es auf etwa 120, 130 Sekunden bringen.
In der Halle wird es still. Nur der Ofen ist zu hören; es zischt und raucht aus der Öffnung des Deckels. Die 1060 Grad heisse Masse mit dem poetischen Namen Glockenspeise ist bereit, der soeben beigefügte Zinnbarren schmilzt wie Butter, sein Schmelzpunkt liegt weit tiefer als der des Kupfers. In unsere gespannte Erwartung hinein spricht Pascal Marquard ein erstes Gebet; der Glockenguss ist auch eine religiöse Handlung. Die grünlichen Flammen, die nun aus dem Ofen schlagen, züngeln wie Gasflammen. Das ist das Zeichen – das Team um Gussleiter Philipp Rüfenacht hält inne. Aus dem Hintergrund spricht der Geschäftsführer der Firma Rüetschi, Jari Putignano ein kurzes Gebet – wie es seit Hunderten von Jahren in diesem heiklen Moment Tradition ist. Seine Worte erinnern an Schillers «Lied von der Glocke». Im Gegensatz zum Original fasst er sich jedoch kurz und schliesst nach wenigen Sätzen mit dem Ruf «Glück auf!» Der Ofen wird angestochen, die Männer schliessen ihr Visier. Ein letztes Wort – «Ist gut?» – und der Mann am Ofen dreht am Rad. Er steuert den Fluss, er trägt die Verantwortung. Der Ofen neigt sich, Funken fliegen, ein goldgelber Strahl springt aus der Gussöffnung in die Rinne. Drei Minuten lang fliesst das flüssige Metall in die im Boden eingelassene Form. Von der Glocke selbst sieht man nichts. Die Männer mit den silbernen Riesenhandschuhen stochern mit ihren Stangen in der nun orangefarbenen Masse und melden, die Form sei gefüllt. Der Ofen wird aufgerichtet – und es wird hörbar ausgeatmet. Für heute ist es gut.
Diese Woche noch wird sich zeigen, ob die Arbeit der letzten Monate erfolgreich war. Die Glocke wird aus ihrem Mantel befreit. Die «Geburt», wie der Vorgang in der Fachsprache heisst, ist eine harte Arbeit für die Gesellen. Dann wird die Glocke geputzt, gebürstet, geprüft, eventuell gestimmt. Das Können des Gussmeisters ist zentral, doch nicht allein entscheidend. Wie bei allen grossen Unternehmungen schafft das Zusammenspiel im Team eine Art Gelingfaktor. Eine Garantie gibt es nicht. Schiller, der schon als Schüler das Handwerk des Glockengiessens kennenlernte, sagt es in den ersten Zeilen seines Gedichts so: «Fest gemauert in der Erden / Steht die Form, aus Lehm gebrannt. / Heute muss die Glocke werden. / Frisch Gesellen, seyd zur Hand. / Von der Stirne heiß / Rinnen muss der Schweiß, / Soll das Werk den Meister loben! / Doch der Segen kommt von oben.»
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