Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 25. Oktober 2024
Das alte Foto zeigt einen Jungen mit viel zu dünnen Armen und Beinen. Sieben Jahre war Kurt Erni damals und unterernährt. Doch das ständige Hungergefühl war noch sein geringstes Problem. Seine Kindheit war geprägt von Verbrühungen, Verbrennungen, psychischer Gewalt, Angst und sexuellem Missbrauch. Die eigene Mutter quälte ihren Sohn auf brutalste Art. Wenn sich der Zumiker auf fast 150 Seiten daran erinnert, klingt das nicht vorwurfsvoll, nicht anklagend. Der Autor will kein Mitleid. Sachlich und nüchtern beschreibt er seine Lebensgeschichte, was diese fast noch schwerer wiegen lässt. Kurt Erni war viele Jahre Polizist. Er hält sich gerne an Fakten.
Doch wenn er erzählt, hält er manchmal inne. Dann verdunkelt sich sein sonst so wacher Blick ein wenig. Er weiss, dass das Verhalten seiner Mutter Gründe hatte. Sie erlebte selbst eine Kindheit mit Gewalt. Das Wissen von heute wird dem Kind nicht geholfen haben. Nach der Lektüre von «Vom Nichts zum Ich», das vorgestern mit einer Buchvernissage vorgestellt wurde, stellt sich die Frage: Wieviel kann ein Mensch ertragen, ohne sich der Hoffnungslosigkeit hinzugeben?
20 Rappen hatte Kurt seinerzeit seiner Mama aus der Börse stibitzt. Sie band ihm die Hände zusammen, steckte ein Stück Papier dazwischen. Zündete es an.
Seine langjährige Lebenspartnerin konnte das Manuskript nicht zu Ende lesen. Seine Psychologin hingegen hat das Buch gelesen; schliesslich war sie es, die ihn ermunterte, seine Biografie zu schreiben. Es kann schwierig sein, wenn Patienten mit traumatischen Erfahrungen wieder in diese abtauchen, fürchterliche Situationen wieder durchleben. Dem Zumiker hat es geholfen. Nächtelang ist er am Tisch gesessen und hat aufgeschrieben, was er jahrelang aus Selbstschutz verschlossen hielt. «Nun habe ich die Schublade leergeräumt. Da ist Platz für etwas Neues», meint er vorsichtig optimistisch. Doch nicht nur deswegen hat er das Buch geschrieben. Er möchte das Tabu von der weiblichen Täterschaft brechen, denn bei Misshandlung oder Missbrauch sind die Täter meistens männlich. Aber es gibt sie eben auch, die Mütter, die physisch und psychisch quälen. Die ihre Kinder emotional verhungern lassen. «Meine Mutter war eine Sadistin.» Sie schindete nicht nur den kindlichen Körper. Immer wieder hörte der Junge, dass aus ihm nichts werden könne. Höchstens ein Verbrecher. In der Zeit, als andere Selbstvertrauen und Selbstwert lernten, lernte Kurt Erni nicht aufzufallen. Bloss nicht den Ärger der Mutter auf sich ziehen.
Irgendwie überlebte das Kind die grausame Zeit und beschloss, nicht länger Opfer zu sein. Er verliess das Elternhaus, absolvierte eine Kochlehre und konnte seinen Traumberuf ausüben: Polizist. «Ich hatte schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.» Natürlich war er dabei auch mit Gewalt und Tod konfrontiert – etwa als in Pfäffikon ein Reisecar von einem Regionalzug erfasst wurde und 39 Menschen starben. Er musste auch erleben, wie sein Kollege im Dienst erschossen wurde und selbst den Täter in Notwehr erschiessen. Er war konfrontiert mit verstümmelten Suizidopfern. Auch mit den Leichen nach dem Anschlag auf eine Maschine der Swissair im Jahr 1970.
Vielleicht war er durch sein eigenes Trauma abgehärtet. Doch das half ihm nicht mehr im November 1997. Kurt Erni war mittlerweile Chef des Bestattungsamtes der Stadt Zürich, als es in Luxor zu einem Massaker kam. Islamisten töteten mehrere Dutzend ausländische Touristen. Darunter auch Schweizer und Schweizerinnen. Sie wurden in die Schweiz geflogen. Erni schickte seine Mitarbeiter nach Hause und widmete sich selbst der unfassbaren Aufgabe, die Leichen so herzurichten, dass die Angehörigen von ihnen Abschied nehmen konnten. «Wie in Trance verrichtete ich meine Arbeit, verwandelte unglaubliches Grauen in umgekehrte Nähte, die nicht mehr viel über Qualen und Todesangst erzählten. Ich sah den Menschen an, was sie in den letzten Minuten durchmachen mussten, es war in ihren Zügen verewigt», schreibt er.
36 Körper. 36 Menschen. 36 Gesichter. Das war zu viel. Erni verliess sein Büro für immer. Eine Odyssee durch die Welt der Medizin begann. Er verbrachte Zeit in der Psychiatrie, erhielt die Diagnose «Burnout», kam wieder nach Hause, kehrte zurück ins Krankenhaus und fand endlich die Psychologin, die ihn zu dem Buch ermutigte und mit ihm vorsichtig die Kiste der Erinnerung öffnete. «Ganz sachte führte sie mich an den Abgrund meiner Vergangenheit.» Kurt Erni konnte endlich das Gefühl der Schuld und der Scham ablegen. Mehr noch. Er schaffte es, sich auch an die liebevollen und hellen Momente zu erinnern. An die Kindergärtnerin, die ihn tröstete. An seine Hunde, die treuen Begleiter und Seelentröster, an sein Resli und «alle anderen Engel, die mich begleitet haben».
Mit seinem Buch hat der Autor sich befreit. Albträume quälten ihn während der Arbeit, er haderte und zweifelte. Es war ein steiniger und steiler Weg. Schritt für Schritt hat sich Kurt Erni den Monstern der Vergangenheit genähert und sie demaskiert.
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