Zuunterst auf der Prioritätenliste

Von Franziska Müller ‒ 28. März 2025

Das Pilotprojekt der gynäkologischen Sprechstunde für be­einträchtigte Frauen läuft seit vier Monaten im Spital Zollikerberg. Im Interview mit der Initiantin, der Ärztin Dr. Karin Lindauer, wollten wir wissen, wie die Sprechstunde angelaufen ist, wo Schwierigkeiten aufgetaucht sind und welches ihre eindrücklichsten Erlebnisse waren.

Das gynäkologische Ambulatorium des Spitals Zollikerberg ist ein ­Lichtblick in Sachen Inklusion für behinderte Frauen. (Bild: frm)
Das gynäkologische Ambulatorium des Spitals Zollikerberg ist ein ­Lichtblick in Sachen Inklusion für behinderte Frauen. (Bild: frm)

Frau Lindauer, wie waren die Rückmeldungen von Patientinnen oder deren Bezugspersonen auf
die Einführung dieser speziellen Sprechstunde?

Die Reaktionen auf unser Angebot sind überwältigend positiv, alle haben grosse Freude. Die Patientinnen und deren Familien sind dankbar für die Möglichkeit, endlich eine passende gynäkologische Betreuung zu erhalten.

Was war die grösste Herausforderung, der Sie sich stellen mussten? Gab es Hürden, die Sie vorher nicht erwartet hatten?

Ich muss sagen: Nein, es gab keine Hürden. Ich habe wirklich grosse Unterstützung erfahren. Einerseits vom Spital, der Klinikleitung, von meinen Kolleginnen und Kollegen. Die Idee wurde auch andernorts unterstützt. Zum Beispiel im Paraplegikerzentrum Nottwil, wo ich im Vorfeld hospitiert hatte; es gibt dort eine gynäkologische Sprechstunde für Paraplegikerinnen. Die einzige in der Schweiz, notabene. Ich lernte unter anderem das Handling mit dem Patienten-Lifter. Es braucht eine Art mobilen Kran, um die gelähmten Frauen vom Rollstuhl auf den Behandlungsstuhl zu heben.

Können Sie uns von einer Situation erzählen, in der Sie das Gefühl hatten, besonders kreativ oder flexibel werden zu müssen, um eine Patientin bestmöglich zu betreuen?

Ja, das gab es immer wieder. Mir fällt spontan eine etwa 20-jährige Frau ein. Sie wirkte auf mich sehr ängstlich und nervös. Die Begleitperson der Institution, in der sie wohnte, erklärte mir, dass eventuelle Geschlechtskrankheiten abgeklärt werden sollten. Es stellte sich heraus, dass die junge Frau immer wieder weglief und für Stunden nicht auffindbar war; die Betreuenden hatten keine Kontrolle und deshalb die Befürchtung, sie könnte sich mit HIV infiziert haben. Diese Geschichte zeigt die grosse Diskrepanz von den unterschiedlichen Beweggründen, in die Sprechstunde zu kommen. Worum geht es wem? Wessen Interessenlage ist prioritär? Es ist eine Kunst, alle Beteiligten abzuholen. Mein Fokus als Ärztin liegt darauf, die junge Frau zu beraten, ihr Vertrauen zu gewinnen. Zudem musste ich erst herauszufinden, ob sie überhaupt sexuell interessiert ist – dann wären Aufklärung und Verhütung ein wichtiges Thema. Es gab zum Schluss eine gute Lösung, es gelang, sowohl die junge Frau abzuholen als auch die Betreuerin zu beruhigen.

Gab es Erfahrungen, bei denen Sie merkten, dass Ihre Patientinnen eine völlig andere Form der Betreuung brauchten, als sie zunächst erwartet hatten?

Es ist jeweils ein Herantasten. Natürlich ist jeder Mensch verschieden – das finde ich das Schönste überhaupt – aber bei Menschen mit Beeinträchtigung ist das Spektrum noch viel grösser. Es kann eine Frau mit Trisomie 21 in die Sprechstunde kommen, die eine relativ leichte kognitive Beeinträchtigung hat und im weitesten Sinne ein selbstständiges Leben führen kann. Es kann eine schwer autistische Frau geben, die kognitiv fit ist, aber grosse Schwierigkeiten mit Körperkontakt hat und kaum kommunizieren kann. Oder ich habe eine auf allen Ebenen schwer beeinträchtigte Frau vor mir. Grundsätzlich gilt: Wir arbeiten mit äusserst subtilen Signalen. Man muss erspüren, ob eine Berührung in Ordnung ist, was die Person braucht.

Das grosse Spektrum ist die grosse Schwierigkeit?

Ja, die extreme Varianz ist eine Herausforderung. Und auch die sehr häufige Kombination von kognitiver Beeinträchtigung mit psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen. Das ist ein sehr komplexes Bild und macht es besonders schwer, überhaupt an einen Menschen heranzukommen.

Haben sich nach der Einführung Ihrer Sprechstunden unvorher­gesehene Schwierigkeiten bei der Kommunikation oder bei der Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen gezeigt?

Nein, auch hier kann ich nur Schönes berichten. Eine junge Frau kam zur Hormonabklärung. Es gab Auffälligkeiten des Behaarungsmusters. Der Patientin schien es zu diesem Zeitpunkt ansonsten sehr gut zu gehen. Gemeinsam mit der Endokrinologin des Hauses entschieden wir, vorerst auf weitere Abklärungen zu verzichten. Hochspezialisierte Medizin neigt zu übertriebener Diagnostik. Für viele Menschen mit Beeinträchtigung ist dieser Aufwand sehr belastend. Jeder Termin bedeutet für die Frau und die Betreuung weite Anfahrtswege. Da wir etwas Gefährliches ausschliessen konnten, entschieden wir, die Werte gelegentlich zu kontrollieren. Das war ein gutes Beispiel für fachübergreifende Zusammenarbeit; wir handelten pragmatisch. Die Frau soll im Zentrum stehen, nicht die Möglichkeiten der Diagnostik.

Warum glauben Sie, dass das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, insbesondere im Bereich der sexual- und reproduktionsmedizinischen Versorgung, in der Vergangenheit so nachlässig umgesetzt wurde?

Ich glaube, diese Menschen haben keine gute Lobby. Wer kämpft schon wirklich für ihre Anliegen? Es bräuchte Politikerinnen und ­Politiker, die das sichtbar und beharrlich tun. Doch bis ihre Bedürfnisse gesehen, verstanden und umgesetzt werden, ist es noch ein weiter Weg. Ein Lichtblick ist die Initiative zur Unterstützten Kommunikation (UK). Sie zeigt: Auch ohne Lautsprache gibt es viele Wege, sich auszudrücken – mit ­Gebärden, Körpersprache, über Berührungen, Touchscreens oder Blicksteuerung. Kommunikation ist ein Grundrecht, auch unsere Gesetzgebung anerkennt das. Die Initiative wurde letztes Jahr politisch angestossen. Aber wo stehen wir bei der gynäkologischen Versorgung? Auf der Prioritätenliste ganz unten. Es gibt Frauen, die sich nicht mitteilen können, und keiner denkt daran, dass auch sie Anspruch auf eine gynäkologische Sprechstunde haben.

Was haben Sie über die Bedürfnisse Ihrer Patientinnen gelernt, das Sie in Ihrer bisherigen Karriere als Gynäkologin nicht gewusst haben?

Die medizinische Betreuung von Frauen mit Beeinträchtigung verlangt grosse Empathie und Geduld. Viele Patientinnen können sich kaum verständlich machen – und doch bringen sie beispielsweise komplexe Themen wie ihren Kinderwunsch zur Sprache. Ich war erst überrumpelt: Kann jemand mit so grossen Einschränkungen wirklich Mutter werden wollen? Doch, natürlich. Es sind Menschen wie du und ich – mit Träumen, Bedürfnissen, Hoffnungen. Weshalb soll nicht auch ein solcher Wunsch da sein? Solche Anfragen werfen medizinische, genetische und ethische Fragen auf: Ist eine Schwangerschaft möglich? Vertretbar?
Wer trägt welche Verantwortung? Dabei braucht es sowohl medizinische Abklärung als auch psychologische Reflexion. Der Wunsch nach Nähe, Zugehörigkeit, Gebrauchtwerden ist menschlich. Mir war wichtig, den Frauen zu zeigen: Ich sehe euch. Ich nehme euch ernst. Auch wenn ich nicht alles sofort beantworten konnte und mich zuerst fachlich kundig ­machen musste, zum Beispiel bei unserer Genetikerin. Dass die Frauen dieses Thema angesprochen haben, war ein grosses Zeichen von Vertrauen. Es hat mich sehr gerührt.

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