Von Björn Reinfried ‒ 11. April 2025
Auf die Frage, ob Johann Wolfgang von Goethe auf seinen Schweizreisen jemals in Zollikon oder Zumikon gewesen sei, kann Barbara Naumann nur vermuten: «Es könnte durchaus sein, da er von Zürich nach Stäfa reiste. Vielleicht, möglich.»
Auf die freche Frage, warum um Himmelswillen man denn Goethe lesen sollte, weiss sie hingegen eine Fülle von Antworten: «Goethe war ein grosser Europäer, der den Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft reflektierte und die Gefühlswelt in all seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit beschrieben hatte – mit Witz, äusserst differenziert; auf eine literarisch wunderbare Art und in einer Sprache, die heute kaum mehr jemand beherrscht.» Kurz: Die emeritierte Professorin kommt ins Schwärmen, wenn es um einen ihrer Lieblingsliteraten und den Schrecken vieler Gymnasiasten geht.
Die Rheinländerin studierte in Tübingen, Chicago und Berlin und wurde in Hamburg Professorin
für Neuere deutsche Literatur. 203 Jahre nachdem Goethe die Eidgenossenschaft bereiste, kam auch Barbara Naumann in die Schweiz: Sie folgte dem Ruf an die Universität Zürich und trat im Jahr 2000 eine Professur in der Limmatstadt an. Ob Professorin oder Studentin; schon damals war es nicht einfach, in Zürich eine Wohnung zu finden, und so stiess sie durch Zufall auf ein Inserat für eine Wohnung in Zollikon: «Eine schöne Wohnung mit Garten.» Sie zog an die Goldküste und ahnte noch nicht, dass sie gekommen war, um zu bleiben.
Heute, über zwanzig Jahre später, nennt sie viele Gründe, warum sie so gerne hier lebt: «Die Nähe zur Natur und zur Stadt gefällt mir sehr gut. Ich komme zu Fuss in den Wald oder zum See, und seit ich einen kleinen Hund habe, schätze ich das noch mehr.» (Obschon sie eine Goethe-Expertin ist, ist der Hund kein Pudel.) Auch das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinde findet sie sehr schön und bezeichnet es als eine Besonderheit der Schweiz, die sie so in Deutschland nicht erlebt hätte. Es verwundert daher nicht, dass sie schon lange Schweizer Bürgerin ist und sich hier vollkommen zu Hause fühlt: zwischen Natur und Stadt, zwischen Wald und Oper.
Barbara Naumann bringt sich seit Jahren ins Dorfleben ein. Sie engagiert sich im Vorstand des Kulturkreises Zollikon und in der Schulkommission Küsnacht. In den ersten Jahren in der Schweiz war sie zudem Teil der beliebten SRF-Radio-Sendung «52 beste Bücher», in der sie in einer kleinen Gruppe über Bücher sprachen und sie sich «förmlich darin verloren habe». Sie bezeichnet dieses Format, in dem sie sich intensiv mit Texten auseinandersetzen konnte, als Idealvorstellungen eines Diskurses.
Literatur und Bildung spielten in ihrem Leben immer eine wichtige Rolle – ob im Beruf oder privat. Sie lehrte Tausenden Studierenden die Tücken – oder wie sie sagen würde «die Schönheit» – der Literaturwissenschaft und ist Gründerin und Mitherausgeberin der kulturwissenschaftlichen Zeitschrift «figurationen». Wenig überraschend also, dass sie sehr gerne schreibt – auch mal ganz frei von der Leber weg – auf Deutsch, Französisch oder Englisch; sie ist in vielen Sprachen zu Hause.
Spricht sie über die Sprache, über Goethe – und bringt dessen Werke mit Kunst, der Natur und der Liebe selbst in Verbindung –, leuchten ihre Augen. Kein Wunder, denn sie beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit der Verbindung von Literatur und Kunst: «Goethe nahm schon früh ernst, dass alles zusammenhängt: Die ganze Natur besteht aus Kreisläufen, das wird uns heute in der Klimakrise bewusst – in diesen Zusammenhängen zu denken verdanken wir unter anderem Goethe.»
Goethe ist nicht ihr ganzes Leben, aber ein grosser Teil davon: «In den letzten Jahren spielte Goethe eine zunehmende Rolle in meinem Leben», schmunzelt sie beinahe zurückhaltend. Doch Barbara Naumann wirkt im Vorstand der Goethe-Gesellschaft Schweiz und veröffentlichte zusammen mit Margrit Wyder und Robert Steiger ein 624-seitiges Werk zu den Schweizreisen des Dichters. Es verwundert deshalb nicht, dass ein Gespräch mit Goethe beginnt und endet.
Warum sollte man also Goethe lesen? Eben weil seine Texte so einzigartig sind. «Man darf keine Angst vor Goethe haben!», sagt sie. «In der Schule liest man Faust oder Werther – aus dem Zusammenhang gerissen und zu Tode analysiert. Eigentlich sind diese Texte sehr lebendig – und gerade heute sehr aktuell. Goethe war ein Ausnahmetalent und beschäftigte sich mit Naturwissenschaft, Kunst, Kultur, Gefühlen – das widerspiegelt sich alles in seinen Texten. Man muss sie aus dieser Perspektive angehen. Er beschäftigte sich mit Knochenforschung, Botanik, Lichttheorie, Geologie, Meteorologie …» Die Professorin hält inne: «Meine Güte, was hat der alles gekonnt!»
Barbara Naumann weiss viel und kann viel erzählen. Doch welches ihr Lieblingswerk von Goethe ist, kann sie nicht endgültig sagen – alle Texte seien in ihrer Art bezaubernd. Müsste sie sich dennoch festlegen, würde sie allen die Novelle «Der Mann von funfzig Jahren» empfehlen. «Diese kurze Erzählung finde ich sehr witzig», sagt sie fasziniert und erzählt von alten Männern und jungen Frauen, ungleichen Liebesbeziehungen, ausfallenden Zähnen als ödipale Symbolik und der einzigartig humorvollen Ironie des Textes.
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