«Ich habe Verantwortung und übernehme sie auch»

Von Dörte Welti ‒ 30. Mai 2025

Anouk Gerbers Maturitätsarbeit wurde für die diesjährige Ausstellung «echt clever»* ausgewählt. Die Zumikerin bekam für ihre Arbeit, die sie als Reportage angelegt hat, das Prädikat «Höchste Anerkennung».

Freut sich an den rosigen Zeiten des Lebens: Anouk Gerber, 18, Maturandin aus Zumikon. (Bild: dwe)
Freut sich an den rosigen Zeiten des Lebens: Anouk Gerber, 18, Maturandin aus Zumikon. (Bild: dwe)

Anouk Gerber ist in Gockhausen aufgewachsen; als sie zehn Jahre alt ist, zieht Familie Gerber nach Zumikon. Anouk besucht die Primarschule und schafft die Aufnahme in die «Kanti» Küsnacht, sie wählt das musische Profil, Singen ist ihre Leidenschaft, Jazz ihr bevorzugter Stil; sie hat aber auch Pop und Rock auf Lager. Anouk ist ein Einzelkind. Das Thema ihrer Maturitätsarbeit drückt ihre Dankbarkeit aus, dafür, dass es sie überhaupt gibt, manifestiert in dem Titel «Und hätte mein Vater getanzt, so gäbe es mich nicht …». Anouk Gerbers Maturitätsarbeit hat alle Aspekte, die es für eine gelungene Reportage braucht: Einen neugierig machenden Titel, fesselnde Protagonisten, deren – wahre – Geschichten sich nach und nach in einem grösser werdenden Spannungsbogen entwickeln, es gibt Schicksale, unverhoffte Wendungen, Leben, Liebe, Tod. Und ein nachdenklich machendes Happy End.

Filmreife Biografien

Das ist natürlich erklärungsbedürftig. Versuchen wir es mit dem Plot der Geschichte, die tatsächlich
so unfassbar ist in vielerlei Hinsicht, dass man sie eigentlich verfilmen müsste. Anouks Vater, ein kreativer Landschaftsgärtner, wurde als Neugeborener adoptiert. Mit 18 darf er die Unterlagen über seine Herkunft einsehen, mit etwa 30 beschliesst er, seine Familie aufzusuchen, es ist nicht weit, sie leben im Rheintal. Er lernt seine Mutter kennen und erfährt, dass sie an Chorea Huntington erkrankt ist, eine Krankheit, die früher Veitstanz hiess – der Link zum Titel von ­Anouks Arbeit. Anouks Grossmutter befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium dieser unheilbaren erblichen Erkrankung des Gehirns und weiss nicht, wer sie da besucht. Erblich bedeutet, Anouks Vater könnte das Chorea Huntington auslösende defekte Gen auf seiner DNA haben. Es gibt genetische Tests, die die Krankheit ausschliessen können. Der Vater macht einen Test, bevor Anouk geboren wird. Er hat die Genmutation nicht. Das bedeutet, auch Anouk wird nicht an Chorea Huntington erkranken.

Faible für das gedruckte Wort

Einige in der grossen leiblichen ­Familie des Vaters haben die Krankheit oder werden sie bekommen und gehen sehr unterschiedlich ­damit um. Geschichten, die Anouk zum Nachdenken über ihr eigenes Leben bringen, Gedanken, die sie in der Maturitätsarbeit niederschreibt, die jede Person frei zugänglich online lesen kann. Wer es lieber haptisch mag, kann sich ein Exemplar bestellen und ausdrucken lassen bei der Zumiker Buchbinderei Reinauer. Bei unserem Treffen hält Anouk so ein gebundenes Buch in den Händen, dreht und wendet es, blättert, liest Passagen laut vor, ist sichtlich stolz. Auf das Buch, das geschriebene Wort. Es symbolisiert alles, was Anouk leidenschaftlich liebt: Lesen, Schreiben, Print. «Online mag ich gar nicht», sagt die 18-Jährige, die man eigentlich zu den digital Natives zählen will, aber sie sieht sich nicht so. Sie habe sogar in der Schule ­darauf bestanden, über gedruckte Unterrichtsmaterialien unterrichtet zu werden, nicht in einer BYOD-Klasse (das heisst: Bring Your Own Device, also bring deinen eigenen Computer oder ein Tablet). Als sie vor sechs Jahren in die Mittelschule kam, konnte man noch wählen, heute sei das nicht mehr so. Jetzt könnte eine junge Frau mit dieser Einstellung zu den neuen Medien wie aus der Zeit gefallen wirken, aber das Gegenteil ist der Fall. ­Anouk ist engagiert, wissbegierig, bekennt, die Maturitätsarbeit als einen Mix aus Abenteuer und wissenschaftlicher Arbeit empfunden zu haben, mit der sie dazu beitragen will, dass man mehr über die heimtückische Krankheit erfährt.

Wahre Werte

Man könnte jetzt denken, Anouk Gerber werde sicher eine Karriere in der Medizin anstreben oder ­mindestens in Biochemie, um an Chorea Huntington forschen zu können. Falsch. Anouks Motivation für das schwierige Thema ihrer ­Arbeit war Aufklärung, ihr Werkzeug eine ­Reportage. Sie will Journalismus studieren, vielleicht auch Jura, ganz gerne aber Germanistik. Ein Mädchen wie Anouk, die, wie sie erzählt, schon mit sieben Jahren Bücher verschlang, ist prädestiniert für alles, was mit Wort und Schrift, mit Wissensvermittlung zu tun hat. Und nein, sie ist keine Stubenhockerin, die nur die Nase in Bücher steckt. Sie spielt auch Geige im Schulorchester, sie ist gerne in der Natur, schwimmt, joggt und kocht.

Ehrgeizige Pläne

Anouk Gerber ist definitiv zu jung, als dass man von ihr schon ein ­Fazit aus dem bisherigen Engagement erwarten könnte. Aber was ist ihre Zwischenbilanz? Die Antwort kommt postwendend: «Ich habe Verantwortung und übernehme sie auch. Ich möchte dazu beitragen, dass Chorea Huntington die Stigmatisierung verliert.» Sie sei betroffen, im doppelten Wortsinn, deshalb will sie sich dafür einsetzen, dass über Chorea Huntington gesprochen wird: «Die Menschen, die die Krankheit haben oder bekommen werden, haben ein Recht darauf, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen.» Man merke sich den Namen Anouk ­Gerber. Mit Sicherheit wird man noch von ihr lesen, zum Thema Chorea Huntington oder etwas ­anderem, welches das Interesse der Maturandin fesselt. Wahlweise auch hören, wenn sie genauso leidenschaftlich ihrer Passion für ­Musik folgen sollte.

*«echt clever» ist eine Initiative der Schulleiterkonferenz der Zürcher Mittelschulen, die jährlich Maturitätsarbeiten für eine Ausstellung auswählen. In diesem Jahr waren es 60 aus 3000 Arbeiten, die noch bis 8. Juni an der Kantonsschule Wiedikon/Standort Hohlstrasse zu sehen sind. Anouks Reportage ist eine davon, auch nachzulesen auf der Website maturitaetsarbeiten.ch.

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