Nachsorge ist Fürsorge

Von Aline Sloksnath ‒ 17. Oktober 2025

Jörg Weisshaupt gründete den Verein «Trauernetz», Ende Jahr gibt er die operative Leitung ab. Der Zolliker engagierte sich über 20 Jahre in der Suizidnachsorge. Ein Gespräch über ein Tabuthema.

Der Zolliker Jörg Weisshaupt weiss, wie man mit einem Thema umgeht, das mit grossen Stigmata verbunden ist. (Bild: zvg)
Der Zolliker Jörg Weisshaupt weiss, wie man mit einem Thema umgeht, das mit grossen Stigmata verbunden ist. (Bild: zvg)

Jörg Weisshaupt ist einer der Experten für Suizidprävention in der Schweiz. In unzähligen Medienberichten, in denen es um die Nachsorge nach einem Suizid geht, um die Frage nach dem Umgang mit Angehörigen, kommt der 68-Jährige zu Wort. Seine Meinung, seine Erfahrung sind gefragt. «Nachsorge ist in höchstem Mass Präventionsarbeit», so das Credo des Zollikers.

Begonnen hat alles mit der ersten SMS-Seelsorge Europas. «Da bin ich das erste Mal mit dem Thema Suizid in Berührung gekommen», erinnert sich Jörg Weisshaupt. Er hat das niederschwellige und anonyme Angebot mitaufgebaut. Es hinterliess Spuren: Die Suizidnachsorge wurde zu seinem Lebensthema.

Jörg Weisshaupt weiss, was es heisst, um Familienmitglieder zu trauern. 2014 verlor er seine Frau an Krebs, 2018 starb sein mittlerer Sohn an einem Hirntumor. «Im Unterschied zu meinen Verlusten verunmöglicht ein Suizid, einen gemeinsamen Trauerweg zu gehen oder Abschied zu nehmen. Das traumatisiert, der Schock ist grösser.»

1996 übernahm er zusammen mit seiner Frau ihr Elternhaus unterhalb der Zolliker Allmend. Er wohnt heute noch dort: «Ich habe das Privileg einer wunderschönen Aussicht.» Diese ist ihm wichtig. Generell mag er Zollikon, man sei ebenso schnell am See wie im Wald. Doch beim Tempo auf den Strassen müsse etwas passieren. Schon vor dreissig Jahren hat er sich im Elternverein für die Verkehrssicherheit von Kindern eingesetzt, war in der zuständigen Arbeitsgruppe massgeblich daran beteiligt, dass im Juni 2004 Tempo 30 flächendeckend auf Zollikons Quartierstrassen eingeführt wurde. Heute beschäftigt ihn die Bergstrasse direkt vor seinem Haus. Auf der Kantonsstrasse gilt innerorts eine Geschwindigkeit von 50 km/h. «Ich beobachte häufig heikle Situationen mit Kindern, darum bin ich für Tempo 30.»

Vom Lehrer zum Jugendarbeiter

Ursprünglich war Jörg Weisshaupt Lehrer. Zwei Jahre in der Primarschule, nach einer Zusatzausbildung unterrichtete er als Klassenlehrer in Affoltern am Albis Real- und Sekundarschülerinnen und -schüler. Nach zehn Jahren als Lehrer wechselte er in die Jugendarbeit der reformierten Kirche der Stadt Zürich. Im Zuge der Jugendunruhen der 80er-Jahre baute er dort die Fachstelle Kirche und Jugend auf und leitete sie 30 Jahre lang – bis es 2017 zum Bruch kam.

Im Rahmen der Fusion der reformierten Kirchgemeinden der Stadt Zürich wurde seine Fachstelle gestrichen, die Kirche sah die Suizidnachsorge nicht mehr als Teil ihrer Kernkompetenz. «Ich habe dafür gekämpft», erinnert er sich. «Ich hatte ein Konzept verfasst und erst ein Jahr später erfahren, dass der damalige Geschäftsführer des Stadtverbands es gar nicht an den Vorstand weitergeleitet hatte. Der Widerstand war so gross, ich musste mich neu organisieren.» Vier Jahre vor der ordentlichen Pensionierung kündigte er, um sich fortan ganz seiner Arbeit beim Verein Trauernetz zu widmen. «Meine Entscheidung kostet mich monatlich einiges an Pensionskassengeld.» Leichtsinnig hat er sie nicht getroffen: «Ich habe mich mit meinen drei Kindern beraten.» Gefolgt ist er dem Rat seiner Tochter: «Sie meinte, mach das, was am besten für deine Gesundheit ist.»

Perspektiven für Angehörige

Bereits 2004 hatte er zusammen mit seiner Frau in Zürich die geleitete Selbsthilfegruppe «Nebelmeer» aufgebaut, in der sich Jugendliche, die ein Elternteil an Suizid verloren hatten, austauschen konnten. Mit den Jahren kamen immer mehr Gruppen dazu, heute gibt es sie in der halben Deutschschweiz. Längst richtet sich das Angebot nicht mehr nur an jugendliche Betroffene, auch für Kinder und Erwachsene gibt es eine Anlaufstelle. Vor zehn Jahren gründeten sie dann den Verein Trauernetz, um die Gruppen unter einem Dach zu vereinen. Heute bieten Jörg Weisshaupt und sein Team zusätzlich Schulungen für Fachpersonen an und stehen beratend bei Kulturprojekten zur Seite. Ebenso sind sie Teil des Schwerpunktprogramms Suizidprävention des Kantons Zürichs. Das Angebot des Vereins ist divers, die Aufgabe stets gleich: Perspektiven für Angehörige schaffen.

2026 wird er die operative Leitung seinem neuen, vierköpfigen Team übergeben. Dass er selbst jahrelang mit einem 100-Prozent-Einsatz für 20 Prozent Lohn gearbeitet hat, wird sich ändern. Dank der Nestor Stiftung, von einer Zollikerin gegründet, können die vier kleinen Teilzeitstellen künftig vollständig entlöhnt werden. «Das ist ein riesengrosses Glück.» Und dank einer weiteren Stiftung konnte er seine Nachfolgerinnen in diesem Jahr engmaschig in ihre Aufgaben einführen. Er werde weiterhin beratend zur Seite stehen oder eine Schulung übernehmen, wenn es nicht anders gehe. «Aber ich will mich komplett aus der Öffentlichkeit zurücknehmen.» Seine freie Zeit möchte er seinen Hobbys, dem Fotografieren und der Holzbearbeitung, widmen – und seinen Enkelkindern.

Haltung zeigen

Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Jörg Weisshaupt mit einem Thema, das in der Gesellschaft heute noch stigmatisiert, vielfach gar tabuisiert wird und bei dem es viele Berührungsängste gibt. Hat er die selbst manchmal auch? «Nein, im Gegenteil. Ich habe gelernt, dass man nachfragen muss. Auch bei den Profis im Spital geht es stets um die Ermutigung, Suizidalität anzusprechen.»

Für Jörg Weisshaupt stand immer die Beziehungsarbeit im Vordergrund. «Ich finde es wertvoll, wenn Beziehungen zu Menschen aufgebaut werden können. Ob in der Schule oder zu Suizidgefährdeten.» Auch bei seinem Ausstieg bei der reformierten Kirche war dies der entscheidende Faktor: «Das war ein Beispiel, wo sich die Kirche von den Menschen distanzierte.» Wer ihm länger zuhört, versteht, warum er in seinem Fach eine gefragte Stimme ist: Weil er nicht nur informiert, sondern nicht davor zurückscheut, Haltung zu zeigen.

Hilfsangebote

Dargebotene Hand: Tel. 143, www.143.ch
Telefon, E-Mail oder Chat, rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos

Pro Juventute für Kinder und Jugendliche: Tel. 147, www.147.ch
Telefon, SMS, Chat oder E-Mail, rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos

Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch
Adressen von Beratungsstellen in allen Kantonen

Trauernetz: www.trauernetz.ch
Informationen und Angebote für Angehörige

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