Von adminZoZuBo ‒ 12. November 2015
Drei höchst persönliche und zutiefst berührende Geschichten, die sich frappierend ähnlich sind. Die reformierte Kirche lud zum Erfahrungsaustausch über Nahtoderlebnisse.
20 Jahre lang. 20 Jahre lang trug sie dieses Bild in ihrem Kopf, das Bild einer jungen, halbnackten Frau, die leblos am Boden liegt, umgeben von Zeitungen. Stunden wenn nicht Tage vergehen, bis sie gefunden wird. Reden über diesen Anblick, dieses reale Schwarzweissbild, wie sie es nennt, konnte Emma Otero nie. Geschweige denn es einordnen oder verstehen. War es eine ihrer Töchter, die sie sah? Ein Mädchen, das sie kannte? Wird sie gefunden, gerettet werden? War es Realität oder Fiktion, und was wollte das Bild ihr sagen? Während Emma Otero erzählt, ist es mucksmäuschenstill im bis auf den letzten Stuhl besetzten Kirchgemeindesaal. Kein Räuspern ist zu hören, Pfarrer Simon Gebs‘ einleitende Worte versprachen nicht zu viel: Das Programm sei dicht, die Thematik äusserst spannend. Die aus Biel angereiste Pflegefachfrau Emma Otero kommt immer wieder ins Stocken, die richtigen Worte zu finden, fällt ihr schwer – auch heute noch. Die Geschichte nimmt ihren Anfang bei der Geburt ihrer zweiten Tochter. Alles geht gut, ein kerngesundes Mädchen erblickt die Welt, stolz macht sich der überglückliche Vater auf den Weg nach Hause. Derweil nimmt das Leben seiner Frau eine drastische Wende. Die Nachblutungen kommen unkontrollierbar, ein halber Liter pro Minute — dass das nichts Gutes bedeutet, weiss die junge Mutter und Pflegefachfrau sofort. Es folgt die Narkose und mit ihr die Schwelle zum Tod. Doch um dieses Erlebnis zu verarbeiten, das Bewusstsein darüber zu erlangen und eine Einordnung vornehmen zu können, werden Jahre vergehen. Emma Otero fühlte sich fortschweben im von einem hellen Licht erfüllten, dunklen Raum. Alles schien gleichzeitig zu passieren, identisch vorwärts wie rückwärts zu gehen. Sie traf auf ihren verstorbenen Grossvater, dem sie zig Fragen stellte und dessen Antworten die Fragen selbst beinhalteten. Sensationell sei dieses Gefühl gewesen, jegliche Emotionen habe sie erlebt, Wörter seien durchs Universum geflogen wie Untertassen. «Einige kamen mitten im Herz an, andere blitzten ab. Ich habe mich selber so stark gefühlt wie noch nie zuvor.»
Heute sind Nahtoderlebnisse relativ weit verbreitet. Betroffene berichten von aussergewöhnlichen Bewusstseinserfahrungen, vom Verlassen des Körpers, davon, wie es ist, auf sich selber hinunterzublicken. Vom hellen Licht, auf das zugesteuert wird, vom Wiedersehen mit Verstorbenen. Einer der Ersten, der im grossen Stil Berichte von Nahtoderfahrungen zusammentrug, dürfte der Schweizer Geologe Albert Heim gewesen sein. 1892 machte er seine Berichte öffentlich, nur wenige Jahre, nachdem er selber ein solches Erlebnis hatte. Der Gospelsänger Bo Katzmann war zwanzig, als er dem Tod gegenüberstand. Seine Erfahrung schrieb er ebenfalls nieder, mit seinem anfangs Jahr herausgekommenem Buch «Du bist unsterblich» verarbeitet er seinen Motorradunfall. Auch in Zollikon spricht der Musiker und Sänger über die Grenze, die er überschritten habe: «Ich stand nicht an der Grenze zur anderen Welt, ich war da», sagt der Entertainer ebenso überzeugt, wie er auftritt. Nach seinem schweren Unfall sah er sich selber auf dem OP-Tisch liegen, er wollte mit den Ärzten sprechen, doch konnten diese ihn nicht hören. In diesem Moment sei er wegezogen worden durch eine neblige Landschaft. Nebel, der wie das Allwissen ins Meer tröpfelte. Tropfen, die selber zum Meer wurden. «In dieser Dimension gibt es keine Zeit, das Jetzt ist nicht endlos, aber alles ist jetzt.»
Nicole Zülligs Wut dauerte lange an. «Unglaublich wütend war ich, dass ich nicht gefragt wurde, ob ich aus meinem Körper raus oder wieder rein wollte», verrät sie dem altersmässig sehr durchmischten Zolliker Publikum am Mittwochabend, drei Tage nach Allerheiligen. Sie war 16 Jahre alt, als ein schwerer Asthma-Anfall und unverträgliche Medikamente ihre Atmung aussetzen liessen. Zuerst sei sie im Raum geschwebt, berichtet die heutige Psychotherapeutin, die sich auf Trauma-Behandlungen und transpersonale Psychologie spezialisiert hat. «Dann steuerte ich direkt auf das Licht zu. Ich nahm mich selbst als solche Lichteinheit war, wurde Teil dieser riesigen Lichtquelle, die da existierte.» So selbstverständlich Nicole Züllig, Emma Otero und Bo Katzmann in Zollikon heute über ihre Erfahrungen in Todesnähe auch reden, es war ihnen mitnichten immer möglich. Nicht nur das Zurückkommen, sondern vor allem auch das Realisieren und besonders das Verstehen dauerten oft Jahre – und haben die Betroffenen an den Rand des Abgrunds gebracht. «Ich war suizidal», offenbart Nicole Züllig und erzählt von der schwierigen Zeit, die sie durchmachten musste. Sie wollte dem Licht auf den Grund gehen und machte sich auf die Suche. 17 Jahre sollten dahin ziehen, bis sie für sich zum ersten Mal einen Sinn entdeckte. Albert Heims Schilderungen bildeten in den 1970er Jahren den Grundstein für die zu jener Zeit aufkommende Nahtoderforschung. Unter anderen untersuchte der amerikanische Psychologieprofessor Kenneth Ring das Phänomen zwischen Leben und Tod. Als Nicole Züllig eine Vorlesung Kenneth Rings besuchte, und dieser über die Persönlichkeitsveränderung bei Personen mit Nahtoderfahrung sprach, habe sie angefangen zu verstehen – und selber darüber zu schreiben. Entstanden ist ihre über 400-seitige Dissertation, «mein Schreibfluss war kaum zu stoppen.» Auch Bo Katzmann fühlte sich nach seinem Erlebnis alleine. «Nichts habe ich darüber gewusst, mühsam musste ich forschen, mit niemandem konnte ich drüber sprechen, obwohl es das Realste war, was ich jemals erlebt habe.» Auf die Frage nach der Quintessenz seiner Nahtod- oder Todeserfahrung antwortet der 63-Jährige, er habe verstanden, worum es gehe: «Um die Liebe.» Dasselbe Verständnis erfuhren auch die beiden Frauen.
Bei Emma Otero war es jenes Bild, welches den Wendepunkt brachte. Das Schwarzweissbild, das farbig wurde. Die Vorahnung, die sich bewahrheitete. Kurz vor ihrem 20. Geburtstag erleidet ihre Tochter eine Hirnblutung und fällt ins Koma. Die Mutter findet sie in ihrer Wohnung, halbnackt auf dem Boden liegend, umgeben von Zeitungen. Eine Woche später stirbt die junge Frau. So schlimm dieses Schicksal auch war, Emma Otero konnte nun beginnen, damit umzugehen – nebst der Trauerarbeit über den schmerzhaften Verlust der eigenen Tochter. «All die Ängste wurden gelöst, die mich während Jahren begleitet haben.» Wenn es ein Anliegen gebe, das sie weitergeben könne, dann dieses: «Das Leben hier ist wichtig – es soll nicht gewartet werden auf irgendwann. Das Hier und Jetzt ist entscheidend, nehmt es in die Hand!» Nach den persönlichen Erzählungen, die tiefen Einblick in das Leben und die Gefühlswelt der Betroffenen gewährten, war das Publikum gefragt. Wie geht es mit dem Gehörten um, was lösen die Berichte aus? Während einige versuchten, die Nahtoderfahrungen in einen biblischen Kontext zu bringen, zeigten sich andere erleichtert. «Zu hören, dass es um die Liebe geht, erfüllt mich mit Freude», sagte eine junge Frau, «denn sie kann im Hier und Jetzt gelebt werden.»
Aus medizinischer Sicht referierte der Luzerner Arzt Reto Eberhard Rast, der offen sagte, dass die Schulmedizin keine Erklärung für ausserkörperliche Wahrnehmungen liefern könne. «Was sie zum Thema Nahtoderfahrung nicht erklären kann, wird einfach ausgeblendet.» Das nichterklärbare Verlassen von Raum und Zeit einem Traum zuzuschreiben, greife ebenfalls zu kurz. Bei einem Herzstillstand sei die Hirnstromkurve, die auch zum Träumen benötigt wird, innert 10 Sekunden flach und inexistent. «Ein Traum beruht auf einer Hirnfunktion, das Gehirn könnte eine Todesnähe-Erfahrung nicht erzeugen.» Ob die transzendenten Erlebnisse nun tatsächlich Hinweise auf ein Leben nach dem Tod geben, vermochte auch Pfarrer Simon Gebs nicht zu beantworten und sprach von der Zurückhaltung der Bibel zu diesem Thema. Die Grenze zwischen Leben und Tod sei klar, ein Zurückkommen nicht möglich. Der Mensch müsse die Endgültigkeit, «den Tod als Schmerz aushalten.»
Der gut besuchte Anlass und das engagierte, interessierte Publikum zeigte, wie lebendig das Thema Tod ist, wie gross das Interesse am Leben danach. Auch wenn das Geheimnis bleiben wird, so sind es Aussagen wie jene Emma Oteros, die Mut machen und glauben lassen: «Wo auch immer meine Tochter ist, so weiss ich, dass sie dort gut aufgehoben ist.» Ihr Kind habe sie in keine besseren Hände geben können. Tief berührende Worte einer starken Frau. (mmw)
ANMELDEN
Herzlich willkommen! Melden Sie sich mit Ihrem Konto an.