23/2016 «Am Schluss geht es um Selbsterkenntnis»

Von adminZoZuBo ‒ 10. Juni 2016

«Am Schluss geht es um Selbsterkenntnis»

Die Zürcher Schriftstellerin Susanna Schwager hat letzte Woche in sehr kleinem Kreis eine Lesung gehalten – ein schöner Anlass.

Wer kennt sie nicht, die Bücher mit dem Titel «Das volle Leben – Frauen/Männer über 80 erzählen»; das Frauenbuch stand 45 Wochen auf der Bestsellerliste. Der Band «Das halbe Leben – Junge Männer erzählen» hat bei Kritikern und Publikum ebenso viel Begeisterung hervorgerufen. Zehn Porträts aus diesen drei Büchern hat die mehrfach ausgezeichnete Autorin auf Einladung des Ortsmuseums Zollikon hin vorgelesen. Ob Jacques Kuhn oder Jean-Sébastien, Stefanie Glaser oder Monika, die Geschichten berühren, gehen unter die Haut und reissen mit. Jede Geschichte ist eigen. In der intimen Runde in der Aula des Primarschulhauses Oescher wurde häufig gelacht und begeistert applaudiert. Genau dieser intime Kreis liess zu, dass die Zuhörerinnen zahlreiche Fragen stellen konnten und so erfuhren, dass Susanna Schwager ihre Art zu schreiben, nämlich dokumentarisch, vor 12 Jahren aus Mexiko mitgebracht hatte, wo sie mehrere Jahre gelebt hatte. Davor war sie lange Lektorin beim Diogenes Verlag gewesen und hatte für die Weltwoche geschrieben, als diese «noch eine andere Weltwoche war».

Berührende und bewegende Begegnungen

Für ihre Bücher beginne sie einfach mit einer der porträtierten Personen, erzählte die Autorin, sie wähle jemanden aus – manchmal Menschen, die sie kennt, manchmal solche, die sie irgendwo trifft; die Auswahl erfolgt rein zufällig –, und irgendwann sei das Buch dann voll. Zwei bis vier Stunden dauern die Gespräche, in denen die 57-Jährige ihrem Gegenüber zuhört. «Ich stelle bewusst keine Fragen, es ist kein Interview, es ist ein Begegnen.» Sie nimmt die Gespräche auf Tonband auf und schreibt sie anschliessend nieder, ohne – und das sei eben das Zentrale – etwas hinzuzufügen. «Ich nehme die Sätze und füge sie wie zu einer Collage zusammen.» Aus dem gesamten Material nehme sie die Essenz und webe daraus einen Faden. Peter Bichsel meinte einst, dass dadurch, dass Susanna Schwager die Leute ausreden liesse, Nähe entstünde und die kleinen Nebensächlichkeiten die Porträtierten zu Menschen machen würden. Die Nähe, die in diesen Texten liegt, ist in der Tat sehr eindrücklich. Oft seien die Gespräche sehr berührend, sagt die Schriftstellerin, und am Ende gehe es um Selbsterkenntnis, und zwar um jene des Lesenden als auch um jene der Schreibenden. «Die Themen, die uns unabhängig vom Alter beschäftigen, sind die gleichen.» Zu merken, wie ähnlich wir uns eigentlich alle sind, schaffe eine Verbindung. Beeindruckend sind auch die Unterschiede, auf die die Autorin am Schluss ihrer Lesung hinwies: «Alle Männer, ausnahmslos alle, haben geweint, und alle redeten über Frauen, entweder über ihre Mütter, Ehefrauen oder Freundinnen. Keine der porträtierten Frauen hat geweint, und sie haben selten über ihre Männer gesprochen.» Natürlich mussten die anwesenden Zuhörerinnen hier einmal mehr schallend lachen. Wie der Unterschied bei den jüngeren Männern und Frauen aussieht, wird erst im nächsten Jahr enthüllt, dann, wenn Susanna Schwagers Werk «Das halbe Leben – Junge Frauen erzählen» erscheint. (ft)

 

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