«Leibes Wienachtskindb»

Von eingesandt ‒ 20. Dezember 2019

Die diesjährige Weihnachtsgeschichte stammt von der Religionslehrerin und Pfarrfrau Brigitte Gebs-Baumberger. Eine wirkliche Begebenheit aus ihrem Schulzimmer mit einem unerwarteten Himmelsgruss an Weihnachten.

Es gibt Kinder, die können am Anfang ihrer Schulkarriere ein «d» nicht von einem «b» unterscheiden, auch ein «p» sieht für sie gleich aus wie das «q» oder «g» und richtig gross wird der rechtschreiberische Schlamassel, wenn es sich um «ie» oder «ei» handelt. So wird dann der Wald zu Walb, Alpen zu Alqen. Der Tannenbaum zu Tannendaun. Weihnachten wird zu Wiehnachten, was süffig klingt und liebes Christkind zu «leides Christkinb». Die Heilpädagogik spricht in diesem Fall von einer Lagelabilität im Bereich Legasthenie oder eben ­einer «Lapeladilität in der Lepas­thenei» je nach Gesichtspunkt des lesenden Menschen.

Linus war eben in die erste Primarklasse eingetreten und hatte diese «unplaudliche Fähipkiet», die Wörter noch bazu von rechts nach links, also spiegelverkehrt schreiben und lesen zu können. Einer seiner ersten Sätze im Religionsunterricht lautete: «ZloH sua tsi haoN echrA eid.» Hier die Übersetzung für die Personen, welche dieses Talent leider verloren haben: «Die Arche Noah ist aus Holz.» Einwandfreies «Seitenverkehrtnisch», also falls diese Begabung in der Schweizer Volksschule eines Tages geschätzt werden sollte.

Es gab Zeiten, da machte Linus mehr Fehler pro Satz, als er Wörter schrieb. Beim Rechnen schlug er sich besser, vor allem als er merkte, dass 17 Schweizerfranken ein gelbes Nötli plus Klienpelb beinhalteten und 71 Franken sogar ein grünes und ein rotes mit einem Ienfränkler.

In freien Zeiten zeichnete Linus häufig kleine Flugzeuge und Helikopter ins Religionsheft sowie auch auf Weihnachtskarten. Ich fragte ihn, ob sein Vater beruflich Pilot sei. Er verneinte und meinte, dieser arbeite in der Bank in Zürich, ­jedoch wolle er höchstpersönlich eines Tages diesen Beruf erlernen.

Nun, mein Kopfkino als Lehrerin startete sofort auf. Wie konnte dieser Junge mit dieser empfindlichen Lese-­ und Schreibschwäche je eine Ausbildung zum Piloten in Betracht ziehen? Ich bremste mein intuitives «Oha» und sagte stattdessen zu Linus: «Das ist eine prächtige Idee! Wenn du dann ein Flugzeug steuerst, kannst du alles lesen.» Linus fragte darauf konsterniert: «Warum das?», und ich ergänzte, er könne dann in jedem Looping, kopfüber und retour seine Cockpituhren und Digitalanzeigen seitenverkehrt und in allen Flug-­ und Lebenslagen entziffern. Er besitze ja diese besondere Fähigkeit.

Der Junge glaubte es mir und ­lächelte. Ich dachte damals, hoffentlich trägt und motiviert ihn diese Idee noch lange durch die Volksschule. Zehn Jahre später an einem Heiligen Abend zwischen dem klassischen Chinoise und der Bescherung in der versammelten Grossfamilie klingelte mein Telefon. Solche Situationen ereigneten sich öfters an Weihnachten und wenn sie passierten, verhiess das im Pfarrhaus wenig Gutes. Oft hatte sich dann ein familiäres oder persönliches Drama ereignet und mein Mann oder ich wurden um Hilfe gebeten.

Mit einer innerlichen Gefasstheit nahm ich den Anruf an. Rauschen. Fernes Rauschen, wie wenn der Fernseher kaputt ist und nur noch sein Schneeflimmern sendet. Dann ein «Hallo?» … und mein antwortendes «Ja, hallo?» Meine Gedanken wanderten bereits in Richtung eines Dramas auf einem Zürcher Aussichtsturm. «Ich verstehe Sie nicht?», versuchte ich mit dem Gespräch fortzufahren und hörte erneut dieses windstarke Rauschen. «Frau Gebs, kennen Sie mich noch?» – «Schwierig», dachte ich, «ohne Bild und nur durchs Telefon.» Die Frage war mir äusserst bekannt und erinnerte mich an Zolliker Chilbimontage, an denen ehemalige Schüler und Schülerinnen aus Zollikon jeweils in der Fassbar auf mich zutraten. Gewachsen und angereichert mit ihren Ausbildungen und Lebenserfahrungen, erzählten sie mir bei einem Gin Tonic stolz ihren Status quo. «Kennen Sie mich noch?»

Das Rauschen im Natel vermischte sich mit digitalen Piepstönen in Staccato-­Abständen. «Frau Gebs, wissen Sie noch, ich war Ihr Schüler damals … in der Religion und so.» Bingo, dachte ich, nur welcher der Hundertschaften war er und in welchen Schwierigkeiten befand er sich?

«Frau Gebs …?» Rauschen. «Ich bin Pilot geworden! Wie Sie es gesagt haben …» Rauschen und digitale Töne. «Oha … aha …», antwortete ich der fernen Stimme und mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. «Wo bist Du denn?», fragte ich schnell. «Moment … auf 8390 m.ü.M. in Richtung Bratislava», lautete die präzise Antwort aus dem Cockpit. «Und neben mir sitzt Ihr Verwandter, ich fliege mit ihm. Und da haben wir übers Leben geredet und herausgefunden, dass er sie kennt, und jetzt musste ich Ihnen einfach telefonieren.» Während seines erklärenden Redeschwalls aus dieser Flughöhe hatte ich Zeit, meine «Pilotenjungs» in meiner Schulstube gedanklich zu durchforsten. Den tröstenden Spruch bei einer Legasthenie hatte ich nämlich ab und an wiederverwendet.

«Bitte, wie heisst du, also Sie denn?», fuhr ich fort. «Na, ich bin doch der Linus … wissen Sie nicht mehr? Sie haben doch gesagt, nur ich kann ‹Seitenverkehrtnisch›. Und damals habe ich ‹leibes Wienachtskinb› geschrieben, mehr Fehler als Wörter, und Sie sagten, ich soll einen Helikopter auf die Weihnachtskarte zeichnen. Wissen Sie noch?»

Et voilà, ich erinnerte mich. An die Karte weniger, die kam seinen Eltern zugut, doch an diesen phänomenalen Erstklässler. «Schöne Festtage wünsche ich Ihnen und sind Sie noch Lehrerin im Oescher?», schloss er das Gespräch. «Ja, ja … ich gebe nicht auf. Einen schönen Gruss auch an meinen Verwandten und von Herzen einen Dank für diesen unerwarteten Himmelsgruss», beendete ich gerührt das Telefonat.

Unverzüglich fragten die Familienmitglieder in der Pfarrstube unterm Christbaum nach, wer denn telefoniert habe. Ich richtete ihnen den Gruss des Verwandten aus gut 8000 m.ü.M. Richtung Bratislava aus und erzählte ihnen von den Begebenheiten mit und von Linus.

«Stimmt ja gar nicht mit dem ‹Seitenverkehrtnisch› …», fand darauf jemand Kluges heraus. Eine Diskussion begann, Klärungen folgten, ich schmunzelte: «Nicht? Und er wurde nichtsdestotrotz Pilot, was für ein Weihnachtsgeschenk. Made my day!» Ein Traum, der trotz aller Prognosen wahr geworden war und am Hielipadenb in unserer Wiehnachtsstude Platz und Gehör gefunden hatte. «Seitenverkehrtnisch» eben und wirklich passiert.

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