Von Melanie Marday-Wettstein ‒ 17. April 2020
Wie schwierig Abschiednehmen in Zeiten von Corona ist, erzählt unsere Redaktorin Melanie Marday-Wettstein anhand einer persönlichen Geschichte.
Seit vier Wochen ist unser aller Leben auf den Kopf gestellt. Am Anfang empfand ich den Notstand vor allem als ungewöhnlich. Distanz halten, zu Hause bleiben, Entschleunigung. Dann allmählich als anstrengend. Mit den Kindern zu Hause lernen, am gleichen Ort der Arbeit nachgehen, den Haushalt erledigen, die sozialen Kontakte aus der Entfernung pflegen, die Partnerschaft wird zum Koordinationsgremium – ein Kraft- und Balanceakt. Nun aber habe ich auch erfahren müssen, wie viel Schmerz die gesamten Massnahmen verursachen können, die getroffen wurden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Dann nämlich, wenn persönliches Abschiednehmen verunmöglicht wird.
Es ist Anfang Jahr, Covid-19 nördlich der Alpen noch praktisch unbekannt. Meine Grosseltern – mein Grossvater bald 94, meine Grossmutter bald 92 Jahre alt – entscheiden sich für die Altersresidenz. Darauf hatte die Familie zwar lange gehofft, aber nicht damit gerechnet, dass die Entscheidung so plötzlich getroffen und so schnell umgesetzt würde.
Das Haus, das meine Grosseltern fast 30 Jahre lang in Küsnacht bewohnt hatten, zu verlassen, ein Stück Autonomie abzugeben, ist vor allem für meinen Grossvater mit langem Ringen verbunden gewesen. Später würde auf der Umzugskarte stehen: «Wir haben unser Traumhaus verlassen». Als er merkt, dass es nicht mehr anders geht, fasst er also seinen Entschluss. Weil zu diesem Zeitpunkt aber keine Alterswohnung in Küsnacht – ihrem Küsnacht, in dem sie ihr gesamtes langes Leben verbracht haben – frei ist, vergehen Wochen bis zum Umzug. Wochen, die alles verändern. Covid-19 kommt und bleibt und die Folgen sind uns allen bestens bekannt.
Kurz bevor der Bundesrat die Notlage ausruft wird eine Wohnung frei und schon bald nehmen meine Grosseltern den Umzug in Angriff. Es wird schwierig. Als Enkelin soll ich meine Grosseltern nicht mehr besuchen. Am letzten Tag vor dem Umzug gehe ich zwar noch vorbei, muss aber Distanz halten: Eine Umarmung liegt nicht mehr drin, von den Urenkeln überbringe ich eine Zeichnung. Mein Vater und seine beiden Schwestern kümmern sich um alles, räumen das Haus. Beim Einräumen der neuen Alterswohnung darf nur jemand von ihnen mithelfen, und auch das nur unter strengen Schutzmassnahmen. Unsere Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern danach zu besuchen, ist uns allen nicht erlaubt. Die Massnahmen sind zwar richtig und verständlich, für Angehörige und auch für die Bewohnenden selbst aber bedeuten sie eine äusserst schmerzhafte Erfahrung.
Wir haben das Glück, dass der Balkon ihrer Alterswohnung nahe an einer Wiese liegt, auf der Geissen grasen und wir uns, angelehnt am Zaun, von Angesicht zu Angesicht mit ihnen unterhalten können. Der bereits vor dem Umzug nicht gute Gesundheitszustand meines Grossvaters verschlechtert sich rapide. Er wird in den Spital eingeliefert. Besuchen dürfen wir ihn auch dort nicht. Es folgt die schmerzliche Gewissheit, dass er bald sterben wird, ohne dass sich Enkel und Urenkel von ihm verabschieden können.
Er darf aber nochmals in sein neues Zuhause, wo meine Grossmutter auf ihn wartet, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Seit bald 70 Jahren sind die beiden zusammen, hätten bald die Gnadenhochzeit gefeiert, kaum je einen Tag waren sie voneinander getrennt. Am Karfreitag wird klar, dass er seine Augen bald nicht mehr öffnen wird. Für seine drei Kinder hiess es zuerst, dass sie sich nur einzeln – und natürlich in voller Schutzmontur mit Maske, Mantel und Handschuhen – von ihrem Vater verabschieden dürfen. Die Massnahme wird dann aber doch gelockert. Die drei dürfen zusammen in die Wohnung meiner Grosseltern und meiner Grossmutter beistehen. Mir als Enkelin bleibt nur, meiner Grossmutter auf dem Balkon zuzuwinken, ihr einen letzten Kuss für den Grossvater mitzugeben. Wie gerne ich ihre Hand gehalten, sie in den Arm genommen hätte.
Die Nachricht seines Todes kommt am frühen Karsamstagmorgen. Mein Vater und meine Grossmutter waren bei ihm, als er seinen Lebenskampf beendete und seine Augen für immer schloss. Mir ist bewusst, dass ich meine Grossmutter nicht besuchen kann, aber zumindest von der Wiese aus kann ich ihr nahekommen. Also spaziere ich los, lege einen Halt vor einer Bäckerei ein. Es ist Viertel vor acht. Bereits bildet sich eine Schlange vor dem Laden, zehn Personen warten, schnell werden es mehr. Obschon drinnen alles hergerichtet und das Verkaufspersonal parat scheint, öffnen sich die Türen erst um Punkt acht. Ich weiss nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Bei der Residenz angekommen, übergebe ich das süsse, hoffentlich etwas trostspendende Mitbringsel der Dame am Empfang und mache mich auf zur Wiese mit den Geisslein und zu meiner Grossmutter. Zusammen mit ihren drei Kindern, noch immer in kompletter Schutzausrüstung, kommt sie auf den Balkon. Wir winken uns zu, schweigen zusammen, trauern zusammen.
Lange habe ich überlegt, ob ich diese Zeilen schreiben soll, sind sie doch sehr persönlich. Dafür entschieden habe ich mich, weil Covid-19 in unsere Geschichtsbücher eingehen wird. Wir erleben, was die meisten von uns noch nie erlebt haben und hoffentlich nie mehr erleben müssen. Das Virus hat viele Gesichter. Es wird einen immensen wirtschaftlichen Schaden hinterlassen, aber auch viele persönliche Schicksale prägen. Mein Grossvater hatte ein langes, erfülltes Leben. Er war ein stolzer Mann, den ich in bester Erinnerung behalte. Er freute sich immer, wenn er Berichte von oder über seine Liebsten in der Zeitung lesen durfte, liess Glückwünsche zum Geburtstag gerne publizieren oder wünschte sich übers Radio ein Ständchen für seinen Schatz.
Die Familie wusste, dass er gehen wollte, weiss, dass es ihm nun besser geht. Auf diese Weise Abschied nehmen zu müssen, tut aber einfach nur weh.
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