Kleine Raupen Nimmersatt

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 19. November 2020

Ueli Ramseier produziert feine Seide aus eigener Zucht.

Es ist völlig legitim, Ueli Ramseier einen Spinner zu nennen. Der 58-Jährige wäre nicht böse. Er ist ein Seidenspinner und züchtet die eigenen Raupen. Der Landwirt, der in Zumikon aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, leitet mit seiner Frau Bettina Clavadetscher im bernischen Hinterkappelen die einzige Seidenproduktion, die komplett in der Schweiz liegt.

Dabei sah es sehr lange nicht nach dem Traumberuf «Spinner» aus. Auf die Volksschule folgte das Lehrerseminar in Bern. «Das habe ich mit grösster Mühe abgeschlossen», erinnert sich Ueli Ramseier lachend. Manche Situation wird ja erst mit grossem Abstand leicht. Der Weg führte den jungen Mann nach Wien, wo er Textilchemie studierte, anschliessend ging es zurück in die Region und er arbeitete bei der Firma Heberlein in Hombrechtikon. Doch irgendwann wurden wohl die Gene des Grossvaters wach. Der hatte in Deutschland gearbeitet und Farbstoffe für Seide entwickelt. «Mein Opa war ein wichtiger Mann für mich», unterstreicht Ueli Ramseier. Also war er gegen ein Jahr auf der chinesischen Seidenstrasse unterwegs, studierte vor Ort Produktion, Anbau und das Leben.

Die Kehrtwende

Ein weiteres Studium schloss sich an – diesmal wirklich an der Uni in Bern. Auf dem Stundenplan standen Ethnologie und Religionswissenschaften. Dass er im Anschluss in der Entwicklungshilfe tätig war, ist fast logisch. Gemeinsam mit ­seiner Frau und den beiden Kindern ging es unter anderem nach Papua-Neuguinea, Pakistan und in den Iran.

Im Jahr 2005 eine weitere Kehrwende. «Ich begann eine Ausbildung zum Landwirt», erzählt Ueli Ramseier. Und weil es im Anschluss keinen freien Hof zu kaufen gab, entwickelte er eine Spezialkultur: Er züchtet Seidenraupen, baut Maulbeeren und Haselnüsse an.

Wer glaubt, ein Raupenbauer könne den Tag gelassener angehen als ein ordinärer Landwirt, der täuscht sich. Die Raupen wollen vier Mal am Tag gefüttert sein. Um 6 Uhr morgens das erste Mal, dann um 12 Uhr, um 18 Uhr und tatsächlich um Mitternacht. Die kleine Raupe gilt nicht ohne Grund als Nimmersatt. «Meine Frau ist eine Eule, sie übernimmt die Nachtschicht. Ich bin eher der ‹early bird› und sorge am Morgen für das Futter.» Besonders intensiv seien die letzten Tage vor der Verpuppung. Dann verlangen die rund 15’000 Tierchen 75 Kilo Blätter – am Tag. «Dann packen auch die Kinder mit an und Leute aus dem Dorf helfen uns.»

Umsiedlung von Hand

Beginnt die Raupe, ihren Kokon zu bauen, sei das ein besonders aufregender Moment. Von Hand wird jede einzelne Raupe in einen Rahmen gesetzt. Dann kommt auch Schwägerin Annina Clavadetscher zur Unterstützung auf den Bergfeldhof nach Hinterkappelen. Nach rund drei Tagen seien die kleinen Tiere umgesiedelt. «Dann haben wir endlich mal wieder Zeit, richtig auszuschlafen», lacht Ueli Ramseier. Rund eine Woche bleiben die Puppen in ihrer selbst gebauten Hülle, dann beginnt die Arbeit erneut. Die Kokons ­werden geerntet, getrocknet und schliesslich befeuchtet, damit der Leim sich von den Seidenfäden löst. Die Fäden, die abgerollt werden, sind hauchdünn. «Wir produzieren pro Tag maximal 700 Gramm», erklärt der Landwirt. Und trotzdem versucht er, in den Hof­läden die Preise niedrig zu gestalten. «Ich möchte, dass die Produkte wie Tücher, Schals oder Taschen erschwinglich sind. Deshalb arbeiten wir mit niedrigen Margen.»

Als Züchter ist er fast schon ein alter Hase, ganz neu dagegen ist die Anlage für die Maulbeerproduk­tion. Die Raupen lieben die Blätter, die Beeren schmecken den Menschen, die Wurzel kann für medizinische Zwecke genutzt werden, und der Baum liefert schönes Holz. Über 500 Bäume stehen mittlerweile auf dem Areal. Weil aller guten Dinge drei sind, wachsen auch noch Haselnüsse, die Schokoladen veredeln.

Nach Ausflügen in andere Bereiche scheint Ueli Ramseier angekommen zu sein. Er liebt es, den Jahreszeiten zu folgen. Nach der Ernte folgt die Verarbeitung, dann werden die Bäume und Sträucher geschnitten, der Boden wird vorbereitet, die nächsten Raupen werden gefüttert. «Es hat etwas Meditatives, dem Lauf der Natur zu folgen.» Das vermittelt er auch gerne bei Führungen durch die Anlage.

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Seidenraupen

Für die Herstellung des Seidenfadens ist der Maulbeerspinner zuständig. Das ist ein unscheinbarer Nachtfalter, der für seine Entwicklung vier verschiedene Stufen durchläuft: Ei – Raupe – Puppe – Schmetterling. Maulbeer- oder auch Seidenspinner ernähren sich ausschliesslich von Blättern des weissen Maulbeerbaumes, der ursprünglich in China beheimatet war. Mittlerweile wird er auch bei uns angebaut, um die Nahrung der Seidenspinner zu gewährleisten. Nach vier Wochen spinnt sich die Raupe in einen Kokon ein und die Metamorphose beginnt. Um Seidengarn zu gewinnen, werden die Puppen etwa am zehnten Tag nach Fertigstellung des Kokons mit kochendem Wasser oder heissem Dampf getötet. Der Spinnfaden wird dann vorsichtig abgewickelt und vor der Weiterverarbeitung gereinigt. Um für weitere Nachkommen zu sorgen, lässt man die Verwandlung der Raupe zum Nachtfalter abschliessen. Durch die jahrtausendalte Zucht der Maulbeerspinner sind die Schmetterlinge aber so weit degeneriert, dass sie weder fliegen noch fressen können. Die Falter sind sofort nach dem Schlüpfen auf die Paarung ausgerichtet. Die Männchen sterben gleich danach, während die Weibchen anschliessend mit der Eiablage beginnen. Sie legen 300 bis 500 Eier und sterben dann ebenfalls. Anschliessend beginnt der Kreislauf von neuem. (zzb)

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