Von Antje Brechlin ‒ 22. April 2021
Ursula Böhme arbeitet als Hebamme im Spital Zollikerberg. Im vergangenen Jahr liess sie sich sechs Monate beurlauben, um in einem völlig überfüllten Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Samos zu arbeiten.
Das tue ich! Ich hatte das Bedürfnis, mich aus der Komfortzone zu begeben und im Rahmen meiner Arbeit als Hebamme benachteiligten Menschen meinen Respekt zu zollen. Wir leben hier so privilegiert, wachsen behütet auf und nehmen viele Annehmlichkeiten als selbstverständlich hin. Doch in vielen Teilen der Welt ist das nicht so. Seit Beginn meiner Hebammentätigkeit hege ich den Wunsch, mit einer NGO wie «Ärzte ohne Grenzen» im Ausland zu arbeiten. Als Hebammen für den Sudan, Irak und für Griechenland gesucht wurden, entschied ich mich, nach Samos zu gehen, einer Nachbarinsel von Lesbos. Dort erlebte ich Zustände, die für uns kaum vorstellbar sind.
Ja, da prallen Welten aufeinander. Die einheimische Bevölkerung ist den Flüchtlingen auch nicht mehr wohlgesonnen. Zum einen fühlt sich die Bevölkerung von der EU und dem griechischen Staat im Stich gelassen, da seit fünf Jahren immer neue Flüchtlinge ins Land kommen, ohne dass die Insel nennenswerte Unterstützung erhält, und zum anderen schreckt das Flüchtlingslager Touristen ab. An einen entspannten Urlaub ist nicht zu denken, wenn am Strand Flüchtlingsboote landen. Samos liegt sehr nah an der türkischen Grenze, also werden die Flüchtlinge in teilweise fahruntüchtigen Booten von den Schleppern in griechische Gewässer gezogen. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft nehmen Flüchtlingsfamilien sogar das Risiko in Kauf, auf der Überfahrt zu ertrinken, denn die meisten können nicht schwimmen. Paradoxerweise haben Flüchtlinge aus kenternden Booten eher die Chance, von der griechischen Küstenwache gerettet zu werden. Es wurde aber auch berichtet, dass Flüchtlingsboote von der griechischen Küstenpolizei unter Gewaltanwendung in türkische Gewässer zurückgedrängt wurden. Denn schaffen es die Flüchtlinge ins EU-Gebiet, werden sie registriert und bekommen ein offizielles Asylverfahren. Die EU-Länder scheinen mit der Aufnahme weiterer Flüchtlinge überfordert zu sein.
Das Flüchtlingscamp war ursprünglich für 800 Menschen konzipiert, doch während meines Einsatzes lebten dort zeitweise bis zu 8000 Menschen. Griechenland nimmt seit fünf Jahren Flüchtlinge auf. Die Griechen zeigten am Anfang eine enorme Hilfsbereitschaft. Doch mit immer noch mehr Menschen sind die Zustände im Lager nicht mehr tragbar. Zum Beispiel teilen sich einhundert Flüchtlinge eine Toilette, Duschen stehen kaum zur Verfügung, auch fliessendes Wasser ist nicht immer gewährleistet. Ärzte ohne Grenzen nahm sich dieses Notstandes an. Die Stadt und die Insel Samos sind total überfordert mit einer so grossen Zahl Migranten. Das griechische Gesundheitswesen stellt für alle Flüchtlinge im Lager nur einen Arzt und einzelne Pflegefachpersonen zur Verfügung. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, die Müllentsorgung stellt ein weiteres riesiges Problem dar. Der Gestank des Mülls und des Abwassers liegt über der Stadt. Der herumliegende Müll zieht Ratten an und diese wiederum Schlangen. Zwar sind die Schlangen nicht gefährlich, aber wir behandelten auch Babys, welche nachts von Ratten gebissen wurden.
Zahlreiche NGOs helfen den Flüchtlingen auf Samos und leisten grossartige Arbeit. So ist das im Lager verteilte Essen oft ungeniessbar oder gar verdorben und ohne Nährwert, sodass viele Migranten, auch Schwangere zum Beispiel, Verdauungsprobleme und Mangelerscheinungen entwickeln. Viele Jugendliche, auch aus der Schweiz, leisten Freiwilligenarbeit. Im Projekt «Armonia» zum Beispiel werden mit Spendengeldern täglich bis zu 1000 Portionen frisches, nahrhaftes Essen zubereitet. «Refugee 4 Refugees» bietet Flüchtlingen, die oft nicht mehr haben, als sie am Leib tragen, Kleidung an. Andere versorgen Mütter mit den nötigsten Hygieneartikeln und Kleidung für ihre Säuglinge. Es liessen sich noch viele weitere beeindruckende Hilfsprojekte aufzählen.
Morgens warteten immer schon einige Frauen vor der Praxis, um gynäkologische und geburtshilfliche Fragen abzuklären. Wir versuchten, Risikoschwangere zu diagnostizieren und diese in qualifizierte Kliniken auf das Festland zu überweisen. Für die Geburt gehen die Frauen in das einzige Krankenhaus auf Samos. Die Zusammenarbeit mit dem Spital erwies sich allerdings als schwierig. Den NGOs steht man dort sehr kritisch gegenüber, vermutlich da diese die Situation der Flüchtlinge verbessern und damit ein längerer Aufenthalt nicht mehr so abschreckend wirkt. Vermutlich besteht die Hoffnung, dass die Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie sich unwohl und schlecht versorgt fühlen. Das ist schon sehr makaber. In unserer Praxis schienen sich die Frauen wohl, geborgen und sicher vor dem harten Alltag im Lager zu fühlen. Denn hier wurde auch mal gelacht oder geweint. Es fühlte sich gut an, einfach für diese Frauen da sein zu können.
Ja, sicher. Im Camp Samos kommen vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und der Demokratischen Republik Kongo an. Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan begeben sich vor allem im Familienverband auf die Flucht und geben einander eine gewisse Sicherheit. Vereinzelt sind junge Männer aus diesen Ländern auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Flüchtlinge aus dem Kongo dagegen reisen oft allein. Besonders Frauen auf der Flucht sind bedroht von sexuellen Übergriffen. Ich habe Frauen kennengelernt, die mir von Folterung, mehrfacher Vergewaltigung oder Missbrauch berichteten. Besonders eingeprägt hat sich mir eine Mutter aus Afghanistan, deren Kind bei der Geburt in der Klinik in Samos starb. Am Tag vor der Geburt wurde sie in unserer Praxis untersucht, das Kind lebte, die Wehen hatten eingesetzt, und sie machte sich auf den Weg ins Spital. Nach zwei Tagen wurde sie entlassen und berichtete fassungslos vom Tod ihres Kindes. Sie erhielt vom Spital weder einen Abschlussbericht noch konnte nachvollzogen werden, was die Todesursache gewesen war. Eine Obduktion wurde vermutlich aus Kostengründen nicht durchgeführt. Es ist sehr traurig mitzuerleben, wenn Frauen ihr Kind verlieren und keine Antworten auf ihre Fragen erhalten.
Ich will Mitmenschen darauf aufmerksam machen, was zurzeit an EU-Grenzen passiert. Ich hoffe, dass die Menschen dort und ihr beeindruckendes Schicksal in das Bewusstsein der Menschen hier rückt, und ich hoffe sehr auf eine menschenwürdige Migrationspolitik. Flüchtlinge sind Menschen, die vor unerträglichen Kriegsgeschehen fliehen, wunderbare Menschen und Kinder, die nicht einfach in einem Lager isoliert und vernachlässigt werden dürfen. Und das gilt für alle Flüchtlingslager dieser Welt.
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