Von Zolliker Zumiker Bote ‒ 24. Februar 2022
Es gibt Tiere, die den Menschen in besonderer Weise ansprechen – wie etwa der Igel. Er ist Sinnbild für ungesellige Individualität und trutzige Wehrhaftigkeit. Je nach Aussentemperaturen wird er demnächst aus dem Winterschlaf erwachen.
Die menschliche Phantasie hat den kleinen Stachelritter zur sympathisch-drolligen Symbolfigur erkoren, sowohl in verbaler als auch bildlicher Darstellung. In Märchen und Fabeln haften ihm ein bisschen Verschlagenheit und Mutterwitz an; man denke nur an den schlitzohrigen Wettlauf zwischen Hase und Igel. In Kunst und Dichtung überlagert die Phantasie meist die zoologische Wahrheit. Klassisches Beispiel: Die seit dem römischen Schriftsteller Plinius kolportierte Meinung, der Igel wälze sich auf Fallobst, um solches – auf den Stacheln aufgespiesst – in sein Nest zu tragen. In Tat und Wahrheit bringt der Igel seinen Jungen nicht nur keine Nahrung, sondern legt auch keine Wintervorräte an, ganz abgesehen davon, dass er als ausgesprochener Insektenfresser nur gelegentlich vegetarische Gelüste verspürt. Zudem wäre ein Aufspiessen beim Wälzen, wenn die Stacheln infolge erschlaffter Muskulatur keine Spannkraft haben und am Körper anliegen, nicht möglich. Selbst aufgerichtete Stacheln hätten in ihrer eng angeordneten Vielzahl keine Aufspiesswirkung (Fakirbrett-Effekt).
Aber was macht den Stacheligen so beliebt? Sicher mal sein Aussehen, die kugelige Form mit dem zierlichen Schnuppernäschen und den dunklen Äuglein. Vielleicht sogar das Abnorme, die Stacheln. Bestimmt beeindruckt auch sein Verhalten, nicht zuletzt die Bewohner eines kleinen Landes, das nach allen Richtungen auf der Hut sein muss.
Im biologischen System der Jäger und Gejagten reagiert die Beute mit zwei Grundverhalten: Sich stellen und (vielleicht aussichtslos) kämpfen – oder fliehen. Der Igel erfand ein drittes Verfahren, das bis ins Vokabular der Militärtaktiker Eingang fand: Sich einigeln und abwarten. Vielleicht ist es vor allem diese Kunst, welche ihm unsere Zuneigung sichert.
Trotz grosser Beliebtheit und geringer Scheu ist der Igel heute noch teilweise ein Rätseltier, das, bevor wir es richtig kennengelernt haben, in seinem Überleben gefährdet ist. Effiziente Hilfe darf sich jedoch nicht auf gut gemeintes Überwintern schwacher Individuen beschränken, sondern muss für Biotope sorgen, die dem Igel ein Überleben aus eigener Kraft ermöglichen. Dies bedingt seriöse Kenntnisse über Lebensweise und Wohnraumbedürfnisse, welche die Igelforschung liefert, zu der auch die Schweiz namhafte Beiträge leistete.
Igelforschung bedeutet Nachtschicht. Mit Peilgerät, Taschenlampe und Notizblock unterwegs, auf leisen Sohlen, in fremden Gärten und Anlagen. Das ist nicht unproblematisch; denn wie in der Nacht alle Katzen grau sind, ist auch schwer zu unterscheiden zwischen Einbrecher, Voyeur und Igelforscher. Um unangenehmen Situationen vorzubeugen, bekamen vorgängig alle Haushaltungen des Untersuchungsgebiets ein aufklärendes Flugblatt. Die Versuchsigel trugen winzige Sender auf dem Rücken, so dass sie per Radiotelemetrie geortet und im Abstand von etwa zehn Metern auf ihren Streifzügen verfolgt werden konnten. Zur zusätzlichen Erkennung war jedes Tier mit verschiedenfarbigen Röhrchen auf den Stacheln markiert. So lernten die Forscher die Problematik der zum Teil undurchlässigen Garten- und Parkstrukturen im Siedlungsraum im Massstab 1:1 kennen. Unglaublich, wie der Mensch in seinem Territorialbewusstsein den Lebensraum der kurzbeinigen und des Kletterns unkundigen Tiere mit Mauern, Zäunen und Gräben verbarrikadiert.
Die Zerstückelung des Lebensraums ist das eine. Dazu kommen die Insektizide der Hobbygärtner, die sich im Magen der Insektenfresser multiplizieren, und Moloch Verkehr hilft kräftig mit, den Igelbestand zu dezimieren. Noch gibt es keine genaue, landesweite Statistik, doch dürften es jährlich viele Hundert von Autos plattgewalzte Igel sein. Eine Untersuchung aus Bayern gibt einen Anhaltspunkt: Auf einer Strecke zwischen München und Passau (150 km) betrug in einer Fünfjahresuntersuchung der Strassentod jährlich rund einen Igel pro Kilometer Strasse. Als Haupttodesfallen erwiesen sich vor allem die Teilstrecken im Bereich kleiner Ortschaften und am Rande mittelgrosser Siedlungen (jährlich fünf Igel pro Kilometer Strasse). Auf diesen Teilstücken, die keine zehn Prozent der ganzen Teststrasse ausmachen, starben fast neunzig Prozent aller Opfer. Das heisst, die Zivilisationsfolger unter den an sich technophilen Stacheltieren, die Garten- und Parkigel, sind am meisten gefährdet.
Solche Untersuchungen zeigen auch auf, dass zu bestimmten Jahreszeiten besonders viele Igel überfahren werden, zudem unterschiedlich nach Geschlechtern. (Männchen und Weibchen sind leicht zu unterscheiden: Die weibliche Geschlechtsöffnung liegt direkt vor dem After, die männliche viel weiter vorn.) Zur Hauptfortpflanzungszeit (April bis Mai) geraten mehr Männchen unter die Räder, da sie auf ihrer Brautschau weiter umherziehen. Trennen sich dann die Jungtiere von der Mutter, sind sie die Hauptopfer. Im Herbst dagegen sterben mehr Weibchen den Strassentod, weil sie – nach Aufzucht des Nachwuchses – aktiver als die Männchen auf Futtersuche sind, um Fettreserven für den Winterschlaf anzulegen. Ergo: Igelmänner werden Honeymoon-Opfer, Igelfrauen sterben den Heldinnentod.
Vergegenwärtigt man sich, dass die Igel eine urtümliche Tierfamilie sind – älter als ausgestorbene Grössen wie Mammut, Wollhaarnashorn und Säbelzahntiger –, die während Jahrmillionen ihren Bauplan und ihre Überlebensstrategie kaum zu ändern brauchten, dann mutet es doppelt tragisch an, dass nun der Mensch diese so gravierend gefährden kann.
Die Natur selbst ist hart: Nur 20 bis 40 Prozent der in einem Jahr geborenen Jungigel erleben den nächsten Frühling. Neben den beschriebenen Gefahren dezimiert vor allem der Winterschlaf, weil die Tiere in unseren ausgeräumten «Biotopen» zu wenig Nahrung finden, um sich ausreichende Fettvorräte anzufressen. Deshalb ist die Erhaltung tauglicher Lebensräume wichtiger als Nothilfe.
In Zeiten des Klimawandels richtet sich die Natur weniger denn je nach unserem Kalender. Doch nicht jeder Igel, der zu früh aus dem Winterschlaf erwacht, braucht medizinische Hilfe. Tierarzt Yves Steiger rät dazu, solchen Tieren erst einmal Futter bereitzustellen: Katzenfutter oder, noch besser, Mehlwürmer und Grillen aus dem Detailhandel. Igel in offensichtlich schlechtem Zustand kann man zum örtlichen Tierarzt, vorzugsweise aber zu einer Igelstation bringen. (rb)
ANMELDEN
Herzlich willkommen! Melden Sie sich mit Ihrem Konto an.