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«Leber ist Leben»

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 17. November 2022

Mit der Diagnose «chronische Autoimmunhepatitis» begann für Carina Bobzin ein langer Kampf um ihre Tochter und für die Aufklärung einer unbekannten Erkrankung der Leber.

Bei schönstem Herbstwetter daheim im Zollikerberg: Heute setzt sich Carina Bobzin dafür ein, dass andere Betroffene und ihre Angehörige Unterstützung erfahren und Antworten finden, nach denen sie selbst so lange gesucht hat. (Bild: bms)

Natürlich hatte Carina Bobzin mal ganz andere Träume für sich und Tochter Meera. Sie war in der Immobilienbranche tätig, Meera lernte am Literargymnasium Rämibühl, wollte Diplomatin werden und reisen. Heute ist Carina Bobzin Präsidentin des Schweizer Leberpatienten Vereins Swiss HePa und freut sich, für den 22. November 2022 zum «1. Schweizer Lebertag» ins Universitätsspital Zürich einladen zu können. Sie konnte namhafte Referenten gewinnen – viele davon kennt sie persönlich.

Odyssee durch Arztpraxen

Im Sommer 2015 klagte Meera immer häufiger über Müdigkeit, über Erschöpfung. Es begann eine Odyssee durch viele Arztpraxen. Es gab viele Untersuchungen, Abklärungen. Erst im November ergab eine Leberbiopsie eine erste Diagnose: Autoimmunhepatitis. «Bei einem 16-jährigen Mädchen denkt natürlich keiner sofort an eine chronische Erkrankung der Leber», erinnert sich Carina Bobzin an die Anfänge eines steinigen Wegs. Die Behandlung mit Kortison mit allen unerwünschten Nebenwirkungen begann. Das Mädchen litt unter starken Kopfschmerzen, Gewichtszunahme, Zittern, Wassereinlagerungen, Hirsutismus, Haarausfall. Die Mutter verliess ihre Berufswelt und war nur noch für Meera da. «Was hätte ich anderes machen können?» Sie nahm in Kauf, plötzlich von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Jeden Morgen fuhr sie die Schülerin in die Stadt und wartete, bis im Laufe des Vormittags Meera anrief, dass sie nicht mehr könne und abgeholt werden müsse. «Die Schule und die Lehrer haben wirklich toll reagiert», würdigt die Mutter im Rückblick. Die zahlreichen Arztbesuche und Therapiestunden wurden zur wöchentlichen Routine. Auch von Seiten der Gemeinde habe sie viel Unterstützung erhalten. Auf der anderen Seite wäre ein Aufenthalt des Mädchens in einem Heim viel teurer geworden. Leider schlugen die Medikamente nicht wie erwünscht an. Zu Weihnachten waren die Werte so schlecht wie nie. Das erste Mal wurde über eine Transplantation gesprochen. Carina Bobzin begann zu recherchieren und stiess auf den ersten Kongress für autoimmune Lebererkrankungen in Lugano. Kurzerhand stieg sie in den Zug, mischte sich unter die Ärzteschaft und lernte eine erfahrene Hepatologin aus England kennen. Diese referierte über die Möglichkeit verschiedener, überlappender autoimmunen Krankheiten der Leber, vor allem bei jungen Patienten. «Ich sprach sie an und legte ihr Meeras Dokumente vor. Ohne diese je gesehen zu haben, erkannte sie eine Schädigung der Gallenwege, PSC genannt.» Die Medikamente wurden angepasst, doch im Januar 2017 folgte ein weiterer Tiefpunkt. Bei der Teenagerin war mittlerweile auch der Darm stark entzündet. Sie wurde notfallmässig und dann stationär für ein halbes Jahr im Unispital aufgenommen. Sie erhielt unter anderem eine ­Morphiumpumpe und wurde drei Monate künstlich ernährt, doch alle Behandlungsversuche schlugen fehl. Carina Bobzin schlief über Wochen in einem Bett an ihrer Seite. «Sie wog nur noch 47 Kilo, war fast durchsichtig.»

Mit Betreuung und Pflege zur Matur mit Bestnoten

Aber in Meera steckt ein grosser Lebenswille. Sie überstand eine achtstündige Operation, in der ihr Dickdarm entfernt wurde und machte trotz allem ihre Matura mit Bestnoten. In ganz kleinen Schritten ging es bergauf. Die dunkelsten Stunden waren überstanden, aber der beschwerliche und gesundheitlich eingeschränkte Alltag blieb und bleibt. Die Mutter – mittlerweile «Spezialistin» auf dem Gebiet der Lebererkrankungen – beschloss, dass andere Erkrankte und Angehörige diesen Weg nicht alleine ­gehen müssen und gründete mit viel Herzblut den Schweizer Leber­patienten Verein Swiss HePa. «Ich möchte ein Netzwerk für Leber­patienten und deren Familien aufbauen, informieren, unterstützen und die gesellschaftliche Akzeptanz steigern», erklärt sie. Immerhin ist die Leber ein immens wichtiges Organ. Sie ist für den Stoffwechsel, den Abbau von Giftstoffen und das Immunsystem verantwortlich. Am 1. Schweizer Lebertag unter dem Motto «Leber ist Leben» geht es um die Spätfolgen von Lebervernarbungen, um Einfluss von Alkohol und Fetten, um Virushepatitis und um Patientengeschichten. Auch Meera wird auf der Bühne stehen und von ihren Erfahrungen und der aktuellen Situation berichten. Zu dieser gehört, dass die Apotheke regelmässig in mehreren Paketen (oder Taschen?) Medikamente bringt, die einerseits helfen, andererseits aber auch Folgeschäden auslösen können. Jeder Morgen beginnt mit der bangen Frage der Mutter: Wie geht es dir heute? Geht es der Tochter okay, kann sie an die Uni, wo sie mit 50 Prozent Biomedizin studiert. Geht es ihr schlecht, bleibt sie im Pflegebett, versucht dort ein wenig zu lernen. «Ich habe in den vergangenen Jahren Demut und Dank­barkeit gelernt», sagt die Mutter. So versuche sie, jedem Tag etwas Schönes abzuringen. Sie denkt nicht an die ganzen administra­tiven Aufwände und Anstrengungen – mit Ärzten, Krankenkasse, Ämtern und Behörden. Ihre ganze Energie fliesst in die Tochter. Im Flur hängen Familienfotos von glücklichen Momenten. Lachende Gesichter bei der Maturafeier, am Geburtstag, in früheren Ferien. Vielleicht kommen demnächst neue Aufnahmen dazu.

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