Aufmerksamkeit ist die neue Währung

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 16. Februar 2023

Eltern tauchten ab in die Welt der Jugendlichen mit PC-Spielen, Selfies und einem pulsierenden Internet.

Kurzweilig führte Ivo Kuster in die verwirrende Welt der Jugendlichen mit all ihren Verlockungen. (Bild: bms)
Kurzweilig führte Ivo Kuster in die verwirrende Welt der Jugendlichen mit all ihren Verlockungen. (Bild: bms)

Ivo Kuster ist ein Berufsjugendlicher. Im besten Sinne. Er ist Medienpäda­goge, Jugend- und Sozialarbeiter. Und vergangene Woche brachte er den Eltern der Sekundarschule Zollikon-Zumikon dieses fremde Wesen etwas näher, das mitten unter uns lebt. Das stundenlang am PC zockt, das nicht redet, sondern whatsapped, das sich ständig fotografiert und dem das Handy an der Hand angewachsen scheint. Der Referent lud die Väter und Mütter ein, sich mal kurz in das Leben unserer Jugendlichen einzufühlen. In eine pulsierende Welt mit so vielen Möglichkeiten wie noch nie. Das Internet schläft nicht, sondern fordert permanent die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer. Aufmerksamkeit und Zeit sind die neuen Währungen unserer Zeit.

Verhandlungen sind nie ­konfliktarm

Schwungvoll brach Ivo Kuster eine Lanze für die Jugend. Was ist so verwerflich an Facebook? Wir hatten früher unsere Freundschaftsbücher. Und waren wir unterwegs, waren wir unerreichbar für unsere Eltern. Wir konnten unerkannt ­abtauchen, erste Erfahrungen machen. Unsere Kinder und Jugendlichen sind permanent erreichbar. «Wenn Mädchen permanent Selfies von sich machen, wollen sie einfach sehen, wie sie selber wirken. Das ist ein Teil der Selbstfindung. Und wenn sie dann ein Video einsenden müssen, um sich für eine Schnupperlehre zu bewerben, ist es nur von Vorteil, wenn sie mit einer Kamera umgehen können.» Der Pädagoge nahm den Eltern aber auch einige Hoffnungen. «Wenn Sie glauben, dass die Medienzeit konfliktarm verhandelt werden kann, täuschen Sie sich ­gewaltig.» Aufgabe der Eltern sei es nun mal, Grenzen zu setzen. Aufgabe der nächsten Generation sei es, diese Grenzen permanent in Frage zu stellen.

Die Jungs zocken, die Mädchen sind auf Tiktok

Natürlich sei es nervig, wenn alle paar Minuten das Natel des Kindes brummt, weil wieder eine neue WhatsApp eingeht. «Aber manchmal geht es eben auch um Ufzgis, etwa die Physik-Aufgaben. Da wird schnell kommuniziert und genau so funktioniert die Wirtschaft später auch.» Der Referent räumte ein, dass eine durchschnittliche Bildschirmzeit von 38 Stunden pro ­Woche bedenklich sei. «Aber wenn jemand so viel Zeit vor dem PC verbringt, muss es ja auch irgendwie spannend sein. Vielleicht finden Sie heraus, was das sein könnte», schlug er vor. Corona sei natürlich als absoluter Bildschirm-Booster dazugekommen. Dabei sei das Gamen am PC ein fast ausschliesslich männliches Problem. Die Jungen zocken, die Mädchen tummeln sich auf Tiktok und Instagram. «Zocken ist ein Wettbewerb, es geht immer nur um Status. Und das ist männliches Verhalten.» Doch Ivo Kuster beruhigte. Er unterrichtet auch an Rekrutenschulen. «Da ist Gaming überhaupt kein Problem mehr.»

Der Referent hatte nicht nur ­Jugendliche am PC und Handy im Visier. Zum Alltag dieser Generation gehörten auch viel Zeit in der Schule mit sehr vielen Prüfungen. Schon früh würden die Weichen für die Berufswahl gestellt. Soll es eine weiterführende Schule sein, eine Lehre oder doch das Gymi? Ivo Kuster verglich den Weg zum Erwachsenwerden mit einer Bergwanderung. «Vertrauen Sie darauf, dass auch Ihr Kind diesen Berg meistern wird. Ihr Kind muss sich in tausend Rollen üben, bis es die richtige gefunden hat», ermutigte er. Zwei Bitten hatte er noch im ­Gepäck: «Bringen Sie Ihrem Kind bei, alles zu hinterfragen, und ­hören Sie nie auf, mit Ihrem Kind zu reden.»


Kommentar: Einfach mal fragen

Bevor die Eltern vergangene Woche auf den Spuren ihrer Jugendlichen durch die digitale Welt wandelten, konnten sie an der Sekundarschule etwas ganz Verrücktes ausprobieren: Schüler stellten den Erwachsenen ihre Lieblingsspiele am Computer vor. Sie erzählten, was sie an den jeweiligen Games so fasziniert, was gefordert und gefördert wird. Sie berichteten vom Rankingsystem und dem Wettbewerb unter ­Zockern. Und die Eltern fragten nach: Spielst du das im Team? Wie wird so eine Stadt gebaut? Welche Figuren gibt es sonst noch? Gibt es versteckte In-App-Käufe? Macht dich das aggressiv? Triffst du dich weiterhin mit Freunden?

Vielleicht ist das ja ein Weg: Einfach mal ins Kinderzimmer und fragen. Sich interessieren, nachhaken, verstehen, was so spannend und verlockend ist. Im allerbesten Fall vielleicht sogar zusammen zocken. Auch dann, wenn Sie müde sind, das Essen zubereitet werden muss und Sie vor allem gar keine Lust dazu haben. Ganz ehrlich: Die ­Kinder sind auch nicht immer aus purer Lust zum sonntäglichen Spaziergang mitgekommen.

– Birgit Müller-Schlieper

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