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In fremden Schuhen sich selber kennenlernen

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 29. Juni 2023

Eine faszinierende Ausstellung im Zolliker Ortsmuseum lädt ein, andere Lebenswege zu erforschen und dabei sich selber zu finden.

Beim Speed-Dating konnten Besucherinnen und Besucher ungeniert Fragen stellen – und vor allem zuhören. (Bild: bms)
Beim Speed-Dating konnten Besucherinnen und Besucher ungeniert Fragen stellen – und vor allem zuhören. (Bild: bms)

Das Sprichwort «In dessen Haut möchte ich nicht stecken» wird im Ortsmuseum Zollikon umgedreht: Bei der aktuellen Ausstellung kann jeder in andere Schuhe schlüpfen und ein fremdes Leben kennenlernen. «A Mile in My Shoes» ist eine faszinierende Möglichkeit, einen ganz anderen Alltag zu erschnuppern. Wahrscheinlich hat sich jeder und jede schon einmal vorgestellt, jemand anderer zu sein. Vielleicht eine Prinzessin, ein umjubelter Popstar oder ein Fussballer im Champignons-League-­Finale. Die Zolliker Ausstellung hat keine Schuhe von Stars parat, sondern von normalen Menschen – wobei eben deutlich wird, dass jedes Leben individuell ist.

Gerade diese Individualität war ein Ausgangspunkt für das Konzept. Auf der einen Seite wird die Selbstoptimierung immer bedeutsamer. Auf jedem Lebensweg gibt es zahlreiche Abzweigungen. Jeder und jede ist gefordert, den für sich richtigen Weg einzuschlagen. Auf der anderen Seite wird Empathie verlangt. Wir sollen uns in das Gegenüber einfühlen, sollen zuhören, im besten Fall verstehen. Wirklich hinhören – und nicht überlegen, was man selbst als nächstes sagen möchte.

Gelungene Premiere

Zwischen diesen Gegensätzen setzt die Wanderausstellung des Empathy Museums aus London an. Auf dem Grat zwischen aussen und innen beginnen die Wanderungen in fremden Schuhen. Zusammengetragen wurden 40 Geschichten aus der Schweiz und der ganzen Welt, erzählt werden sie auf Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Französisch und Englisch. Die Geschichten aus der Schweiz hat das Berner Generationenhaus produziert. Wer zuhört, kann plötzlich nachempfinden, wie zum Beispiel ungewollte Kinderlosigkeit als Damoklesschwert über der Lebensfreude hängt. «Ich habe dem siebenjährigen Max zugehört, der eigentlich als Mona geboren wurde. Das Thema mag überhitzt sein, aber wer die Worte wirklich versteht, versteht auch die Gefühle», erklärte Bruno Heller. Mit seiner allerersten Ausstellung in Zollikon konnte der neue Museumsleiter – trotz brutal drückender Temperaturen – zahlreiche Besucher aller Altersklassen zur Vernissage locken. Und diese wurden beschenkt mit unterschiedlichen Schicksalen, Erinnerungen und Erfahrungen.

Gemeindepräsident Sascha Ullmann nahm sich dabei nicht aus: «Als Politiker lerne ich viele Leute kennen und muss ganz schnell einen Zugang zu den Bürgern finden.» Unterstützt wird die Schau nicht nur durch die Gemeinde, sondern auch durch «Empathie Stadt Zürich», eine Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine Vision für eine empathische Gemeinde zu entwickeln. Ganz spontan lud Co-Gründerin Tanja Walliser während der Vernissage die Besucher zum Austausch auf. Sie berichtete von ­einem Experiment auf dem Paradeplatz, einem Ort, der nicht gerade für Empathie bekannt ist. Die ­Aktivisten hätten im Gespräch die Fassade fallen lassen, unbequeme Wahrheiten über sich selber zur Sprache gebracht – und seien erstaunlicherweise auf Interesse – vor allem auf viel Wiedererkennung gestossen.

Speed-Dating

Es werden in «A Mile in My Shoes» ganz zentrale Fragen gestellt: Was ist der Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid? Kann ich Empathie trainieren wie einen Muskel? Denken wir bei allem, was wir ­hören, am Ende des Tages nicht doch nur an uns? In welche Rollen schlüpfen wir ständig, und was wollen wir andere glauben lassen? Das konnte besonders beim Speed-Dating erörtert werden. An fünf Tischen sassen Personen mit unterschiedlichen Geschichten für Fragen zur Verfügung. Da war zum Beispiel Simon Gebs, der bereitwillig über sein Leben als Seelsorger – auch in einem Care-Team – sprach. Da war eine Mediationstrainerin mit buddhistischem Hintergrund und auch ein Jugendlicher aus Zollikon, der über das Heranwachsen in der Gemeinde Auskunft gab. Auch fern dieser Tische wurden Geschichten ausgetauscht, Erfahrungen geteilt, weil der Mensch eben doch ein soziales Wesen ist.

Das ist wohl der Trumpf der Ausstellung, die schon auf allen Kontinenten der Welt zu sehen war und ständig wächst. Anhand der Hörstationen und Lebensgeschichten wird dem Besucher ein Spiegel ­vorgehalten, der wohlwollend zur Selbstreflexion einlädt. Eingeladen sind Besucherinnen und Besucher auch ins Obergeschoss des Museums. Dort konnten sie Wunsch­armbänder für einen Lieblingsmenschen selbst knüpfen – mit der Besonderheit, dass der Wunsch sich erfüllt, wenn das Armband verloren geht. Eine schöne Interpretation für einen Verlust.

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