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Eine, die gerne spinnt

Von Birgit Müller-Schlieper ‒ 2. November 2023

Am Spinnrad zu sitzen komme fast einer Meditation gleich, sagt Chantal Rathert. Mit un­endlich viel Geduld und Zeit ent­stehen aus der gesponnenen Wolle wunderbare Unikate.

Chantal Rathert sitzt stundenlang am Spinnrad. Allein das Zuschauen beruhigt ungemein. (Bild: bms)
Chantal Rathert sitzt stundenlang am Spinnrad. Allein das Zuschauen beruhigt ungemein. (Bild: bms)

Gleichmässig gehen die Füsse auf und ab. Die Hände halten die Wolle, und zwischen den Fingern läuft der Faden. «Ja, ich spinne», lacht Chantal Rathert. Ein bisschen erstaunt seien die Leute schon, wenn sie das so inbrünstig sage. Allein das Hinschauen beruhigt, und die Zumikerin bestätigt, dass die Tätigkeit am Spinnrad ­etwas Meditatives habe. Stunde um Stunde sitzt sie am Rad und lässt den Faden aufrollen. Wohl gemerkt: Ein Garn besteht immer aus mindestens zwei Wollfäden, die nochmals miteinander verzwirnt werden müssen.

Chantal Rathert scheint eine unermessliche Geduld zu haben. Denn bis sie spinnen kann, muss sie die Wolle beim Schäfer holen, muss sie waschen und von Hand kardieren, damit die Fasern in die richtige Richtung laufen. Strich für Strich für Strich wird gebürstet. Sind dann endlich ausreichend ­Kilometer an Wolle entstanden, greift sie zu den Stricknadeln. Oft werde sie gefragt, warum sie ihre Handarbeiten nicht zum Verkauf anbiete. Sie lacht: «Da steckt so unendlich viel Arbeit und Zeit drin, was für einen Preis soll ich denn dafür nehmen?» Nein. Sie strickt für sich und ihre Liebsten.

Die Spinn-Community

Angefangen hat alles in den 70er-Jahren, als die Buben sich noch im Werken übten und die Mädchen in Handarbeit. «Wir hatten sehr gute Lehrerinnen und haben viel gelernt», erinnert sich Chantal Rathert. Auch die Mutter strickte und nähte gerne. «Wir hatten alles zu Hause. Nähmaschine, Garn, Wolle, Stricknadeln. Da konnte ich reichlich üben.» Nach der Schule ergriff sie den Beruf der Dentalhygenikerin – auch hier ist Fingerspitzengefühl und Feinmotorik gefragt. In der Freizeit wurde gestrickt. «Doch irgendwann hatte ich alles schon mal gemacht. Ausserdem ist Wolle teuer.» So entdeckte sie das Spinnen. An die Wolle zu kommen, sei noch das Einfachste. Diese würde ansonsten einfach entsorgt, im besten Fall
für Biogas verwendet. «Die Schäfer sind noch so froh, wenn wir die Wolle abnehmen. Natürlich bezahlen wir sie, auch um zu ­zeigen, was uns das wert ist.» Mit «Wir» meint die Zumikerin eine kleine Spinn-Community. «Wir sind wie eine Familie, treffen uns regelmässig und unterstützen uns.»

Die Dornröschenfrage

Wer sich mit «Spinnen» befasst, kommt am «Spycher Handwerk» im Emmental nicht vorbei – der Hochburg des Spinnens in den 70er-Jahren. Es war die Zeit der Ölkrise, und aus Angst vor kalten Tagen ohne Heizungen wurde eben Wolle gesponnen. Mittlerweile leben in Huttwil neben Schafen auch ­Kamele, Ziegen, Alpakas. Hier hat Chantal Rathert in einem eintägigen Kurs die Grundlagen des Handwerks erlernt. Sie schwärmt vom Walliser Schwarznasenschaf mit ganz besonders feiner Wolle. Gerne würde sie sich tiefer mit den Möglichkeiten einer chemischen Bearbeitung befassen. Eventuell wären damit die Naturfasern noch weicher und angenehmer zu machen und könnten mehr Kleidung aus umweltbelastenden Kunstfasern ersetzen.

Vom Spinnrad ist es nicht weit zur Spindel. An einer solchen soll sich ja dereinst Dornröschen gestochen haben, ehe es in den Dauerschlaf fiel. Wo aber ist eine solche Spitze? «Das ist die ewige Dornröschenfrage der Spinner. An einer Spindel ist nichts, woran man sich stechen könnte. Höchstens an einer Baumwoll-Spindel. Aber die gab es nicht in unseren Gefilden.» Chantal Rathert stellt Tannenspitzen-Spindeln her. Und mindestens die Hälfte ihrer Kleider hat sie selber genäht. Die lustigen und überraschenden Sprüche an der Wohnzimmerwand hat sie während ihrer Kalligrafie-Phase aufs Papier gebracht. Und da sind noch die Ketten, die sie mit winzigen bunten Perlen aneinanderreiht. Diese trägt sie auch im Alltag. «Ich gehe einfach nicht oft genug in die Oper … » Eine Wohnungswand schmückt das «Mädchen mit den Perlenohrringen». Für Jan Vermeers berühmtes Porträt hat Chantal Rathert 311 Nägel in die Wand geschlagen und zur Silhouette verbunden.

Apropos Nägel: Nageldesign ist ihr neuestes Steckenpferd. Sie hat das Label «Like natural nails» ins ­Leben gerufen. Wie dezent und gleichzeitig lustig das aussehen kann, zeigen ihre eigenen Fingernägel, die passend zu Halloween mit winzig kleinen Gespenstern ­geschmückt sind. Wichtig ist ihr, mit so wenig Chemie wie möglich zu arbeiten. Ihre Ideen sprudeln weiter: Warum nicht die Welt bereisen und freiberuflich als Nageldesignerin arbeiten? Oder vielleicht erstmal eine Strickgruppe in Zumikon gründen?

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