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Planlos in die Verlangsamung

Von Joël J. Meyer ‒ 1. Dezember 2023

Das Dauerthema Verkehrs­beruhigung bewegt die Zolliker Gemüter – stets im kleinen Rahmen. Was aber passiert, wenn sich am Ende alle Tempo-30-Befürworter durchsetzen können?

Die Zahl, die vor der eigenen Haustür gern gesehen wird, auf allen anderen Strassen jedoch Widerwillen erregt. (Bild: jjm)
Die Zahl, die vor der eigenen Haustür gern gesehen wird, auf allen anderen Strassen jedoch Widerwillen erregt. (Bild: jjm)

Unlängst entschied das Zürcher Verwaltungsgericht, dass der Zolliker Gemeinderat die Lärm- und Unfallsituation an der Bahnhofstrasse erneut überprüfen muss. Grund ist der vom Gemeinderat gefällte Entscheid, auf einen ­Antrag zur Einführung einer Tempo-30-Zone an der Bahnhofstrasse
zu verzichten. Ein Anwohner hatte 2021 gefordert, dass die Strasse zur Tempo-­30-Zone werden soll; die ­Gemeinde lehnte dies aufgrund ­vorhandener Tempomessungen, Lärmerhebungen und einer Unfallauswertung ab. Jüngst kam das Verwaltungsgericht zum Schluss, der Gemeinderat habe in seinem Entscheid ungenügend dargelegt, inwiefern die Lärmvorschriften eingehalten werden und die Verkehrssicherheit gewährleistet ist. Der Gemeinderat ist nun abermals gefordert, seine Interessen durchzusetzen.

Auch für die Dufourstrasse wird aus privaten Kreisen die Einführung von Tempo 30 gefordert. Ein kantonales Lärmgutachten aus dem Jahr 2018 belegt, dass die Lärmimmissionsgrenzwerte an der Strasse überschritten werden. Daraus folgen gesetzlich geforderte Massnahmen zum Lärmschutz. Weil noch keine Massnahmen eingeleitet wurden, ­weder seitens des Kantons noch der Gemeinde, haben Privatpersonen diesen Sommer Unterschriften für eine entsprechende Petition gesammelt. Aktuell ist ein Rekurs beim Tiefbauamt hängig.

Und dann gibt es die Zollikerstrasse, für die anfangs November eine Bauausschreibung der Gemeinde publiziert wurde. Das Projekt sieht eine Strassenverbreiterung vom Dufourplatz bis zum Rösslirain, ein neuer Fussgängerübergang beim Kirchweg und den behindertengerechten Umbau der Bushaltestelle Beugi vor. Bereits vor der Ausschreibung dieses Projekts hat sich eine private Interessensgemeinschaft formiert, die Tempo 30 auf der Zollikerstrasse fordert – zur Lärmbekämpfung, Verkehrssicherheit und Hitzeminderung. Eine Einsprache wurde eingereicht, das Tiefbauamt überprüfte die Sachlage und kam zum Schluss, dass ein lärmarmer Belag eine adäquate Lösung sei. Der neue Belag wird beim aktuellen Bauprojekt berücksichtigt. Doch das Nachbarschaftskomitee gibt sich nicht zufrieden und plant eine neue Einsprache zum Bauprojekt.

Kein Vetorecht

Bei der Dufour- und Zollikerstrasse handelt es sich um regionale Verbindungsstrassen. Ein wichtiger Faktor, denn bei jenen Verkehrsachsen kann die Gemeinde nicht selbstständig über die Einführung von Tempo-30-Zonen verfügen; diese Kompetenz besitzt die Kantonspolizei. Würde der Gemeinderat auf solchen Strassen eine Verkehrsberuhigung wollen, müsste er einen Antrag bei der Kantonspolizei einreichen. Tut die Gemeinde das nicht, passiert grundsätzlich nichts. Kommt es aber zu einem Tempo-30-Entscheid der Kantonspolizei, hat die Gemeinde kein direktes Vetorecht. Sie kann aber gegen das dabei entstehende Bauprojekt Rekurs einlegen – auch wenn die Erfolgschancen gering sind. Geht sie juristisch vor, entstehen Kosten, auf die sie sich je nachdem nicht einlassen will. Ein Beispiel ist die Nachbargemeinde Küsnacht: Die Kantonspolizei hat den Tempo-30-Antrag eines Anwohners für die Schiedhaldenstrasse ­bewilligt; dem Küsnachter Gemeinderat missfällt zwar der Entscheid, dennoch verzichtet er auf eine Beschwerde.

Aufgrund der Anfrage einer einzelnen Privatperson wird an der Schiedhaldenstrasse also ein Tempo-­30-Regime eingeführt und die Gemeinde Küsnacht wirft das Handtuch. Hat also nur eine einzige Person Mittel und Zeit, sich mit ­einer Anfrage bei der Kantonspolizei durchzuringen, kann ein ganzer Gemeinderat ausgehebelt werden. Und das mit allen möglichen Folgen, nicht nur in der eigenen Gemeinde, sondern auch im grösseren Zusammenhang. Welchen Einfluss die Temporeduktion auf der Schiedhaldenstrasse zur Folge haben wird, ist spekulativ; doch naheliegend ist, dass neuer Schleichverkehr in Zollikon entsteht, möglicherweise auf der Zumikerstrasse.

Konzept gefragt

Die überwiegende Mehrheit der Zolliker Gemeindestrassen ist bereits verkehrsberuhigt. Für die wenigen Strassen, die es nicht sind, gibt es gute Gründe – sonst hätte der Gemeinderat bereits entsprechende Anfragen für sie eingereicht. Tempo 30 auf Durchgangsstrassen ist wenig sinnvoll, wenn es darum geht, den Verkehr aus den Quartieren abzufangen, durch- und weiterzuleiten. Wohlgemerkt geht es dabei nicht nur um die Geschwindigkeitsreduktion selbst, sondern auch um Verkehrshindernisse, die typischer Bestandteil von Tempo-30-Zonen sind. Wenn nur eine Strassenseite fahren kann, entsteht jeweils Einrichtungsverkehr. Und handelt es sich nicht nur um einige wenige Fahrzeuge, bildet sich rasch ein grosser Rückstau. ­Zudem werden die Achsen des öffentlichen Verkehrs beeinträchtigt. Um bei Tempo 30 die bestehenden Fahrpläne einzuhalten, werden zusätzliche Fahrzeuge und das entsprechende Personal benötigt – ein Kostenaufwand, der in Form von Preiserhöhungen der Billetts oder über Subventionen, sprich Steuergelder, kompensiert werden muss. Letzteres ist in Zürich der Fall. Die Stadt übernimmt die Kosten für zusätzliche öV-Verbindungen im Rahmen von Tempo-30-Einführungen, die Summe beträgt jährlich bis zu 20 Millionen Franken.

Ein Gedankenspiel: Auf der Bahnhof-, Dufour- und Zollikerstrasse wird letztendlich überall Tempo 30 eingeführt – was bedeutet das? Die Gemeinde Zollikon hat diesbezüglich keine Strategie. Der Kanton, also das Tiefbauamt und die Kantonspolizei, interessiert sich aktuell nur für Grenzwerte und Mass­nahmen. Welche weitgehenden Konsequenzen es für die gesamte Verkehrsinfrastruktur birgt, wenn nach und nach mehr Tempo-30-­Zonen eingeführt werden, damit scheint sich offensichtlich niemand zu beschäftigen. Der springende Punkt ist dabei nicht der eigentliche Sinn eines Tempo-30-Regimes, sondern die Frage, inwiefern persönliche und kleinräumige Anliegen die Allgemeinheit in diesem Mass tangieren dürfen. Wie zukunftsfähig ist ein System, in dem Einzelpersonen die regionale Infrastruktur auf den Kopf stellen können? Stehen Einzelinteressen über dem Wohl einer ganzen Gemeinde und deren Umkreis? Wer verantwortet dies? Die Antwort lässt sich in der Zürcher Kantonsverfassung finden: «Der Kanton sorgt für ein leistungsfähiges Staatsstrassennetz für den motorisierten Privatverkehr. Eine Verminderung der Leistungsfähigkeit einzelner Abschnitte ist im umliegenden Strassennetz mindestens auszugleichen.» Ein Wildwuchs an Tempo-30-Zonen ist alles andere als leistungsfähig und von einem Ausgleich ist nirgends die Rede. Höchste Zeit, dass der Kanton seine Pflicht wahrnimmt. Eine nachhaltige und umsichtige Planung ist gefragt.

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