Von Joël J. Meyer ‒ 15. Dezember 2023
Allmählich nähert sich der kürzeste Tag des Jahres, draussen ist es kalt und nass. Abgesehen von pflichtbewussten Hundeführern, disziplinierten Joggerinnen und einigen wetterfesten Wanderpärchen bewegt sich im Zolliker Wald nicht viel. Umso mehr dürften sich die wenigen Waldgänger fragen, weshalb sich im Morgengrauen rund ein Dutzend Menschen mit Warnwesten und Stöcken am Waldrand aufstellt, um danach in weitläufiger Linienformation im Unterholz zu verschwinden. Tafeln auf den Zufahrtsstrassen und Wanderwegen geben Auskunft: «Heute ist Jagd».
Von Oktober bis Dezember führt die Jagdgesellschaft Zollikon bis zu dreimal eine Gemeinschaftsjagd in ihrem Revier durch. Bei dieser organisierten Form der Jagd, auch Treib-, Gesellschafts- oder Bewegungsjagd genannt, arbeiten Treiber und Jäger eng zusammen. Erstere sind die Auffälligen, die sich auf einer Linie aufstellen, um dann koordiniert einen Waldabschnitt zu durchschreiten. Sie machen Lärm, um Wildtiere, in diesem Fall Rehe, aus ihren Verstecken zu treiben, schlagen mit Stöcken gegen Bäume und Sträucher; und wer eine laute Stimme hat, darf auch rufen.
Im selben Gebiet warten die Jäger darauf, dass ein Wildtier in ihre Richtung getrieben wird. Ihre Standorte sind für jeden Abschnitt definiert – aus strategischen Gründen, also dort, wo die Tiere sich wahrscheinlich hinbewegen, und aus Gründen der Sicherheit an Positionen, aus denen mit absoluter Gewissheit sicher geschossen werden kann. Immerhin kann ein Geschoss kilometerweit fliegen und entsprechend verletzen. Deshalb wird aus Stellungen geschossen, die im Falle eines Fehl- oder Durchschusses einen sicheren Kugelfang bieten, zum Beispiel eine Erhöhung im Gelände oder der Waldboden, wenn aus einem Hochsitz geschossen wird.
Die Sicherheit hat bei der Jagd – insbesondere bei der Gesellschaftsjagd, an der viele Personen beteiligt sind – oberste Priorität. Deshalb die Warnwesten der Treiber, und auch die Jäger tragen orangefarbene Kleidungsstücke, damit sich alle gut sehen können. Um das Risiko weiter zu reduzieren, wird bei der Gemeinschaftsjagd in Zollikon Schrotmunition verwendet. Im Gegensatz zu einer einzigen Kugel aus einer Jagdbüchse besteht eine Schrotpatrone, für sie wird eine Flinte verwendet, aus vielen kleinen Kugeln, die auf Kurzdistanz eine grosse Wirkung haben, auf längere Distanz aber rasch an Geschwindigkeit und somit an Energie verlieren.
Wer sich also während einer Jagd im Wald aufhält, hat nichts zu befürchten: Nichts wird dem Zufall überlassen. Am Vorabend montieren die Mitglieder der Jagdgesellschaft Zollikon die erwähnten Warnhinweise im Wald und stellen dreieckige Faltsignalschilder mit der Aufschrift «Jagd!» auf. Die Gesellschaftsjagd beginnt in der Morgendämmerung und ist von Anfang bis Schluss geplant und durchgetaktet. Tradition und Riten haben einen hohen Stellenwert. Die Jagd beginnt mit einer formellen Begrüssung und musikalisch mit Jagdhörnern.
Alle stellen sich kurz vor. Nebst den Mitgliedern der Jagdgesellschaft nehmen auch Gastjäger teil – und Neulinge, die sich ein Bild von der Jagd machen wollen. Als Treiber können sich grundsätzlich alle melden, ob für eine einmalige Erfahrung oder mit dem Ziel, selbst einmal jagen zu wollen. Wichtig jedenfalls ist im wahren Wortsinn die «Gemeinschaft». Gemeinschaftsjagden haben auch einen geselligen Charakter; der uralte Jagdinstinkt bringt Menschen näher zusammen.
Auf die Vorstellungsrunde folgt die «Einweisung», in der über wichtige Details des anstehenden Tages informiert wird: über Jagdrevier, Sicherheitsregeln, Verteilung der Aufgaben, spezielle Jagdregeln und andere relevante Hinweise. Während des Tages wird in mehreren Abschnitten des Waldes gejagt. Für jeden solchen «Trieb» erhalten alle eine Karte mit dem exakten Jagdbereich, den Jägerpositionen und den Ausgangs- und Endpunkten der Treibergruppe. Für jeden Durchgang gibt es eine weitere kurze Einweisung und am Ende eine Nachbesprechung über Erfolge – auch Misserfolge. Dieser Austausch ist wichtig. Erfolge beim «Abschuss» werden mit einem «Waidmanns Heil» gewürdigt und gefeiert, kommt es aber zum Schuss ohne Waidmanns Heil, beginnt die Diskussion um eine Nachsuche.
Ein weiterer wichtiger Pfeiler der Jagdkultur ist der würdevolle Umgang mit Natur und Tieren. Jagd ist Jagd, das versteht sich, doch der respektvolle Umgang mit Leben und Tod ist der Jagdgesellschaft ein grosses Anliegen. Der Schuss auf ein Tier soll nur abgegeben werden, wenn sicher ist, dass es auch korrekt getroffen werden kann. Das bedingt Treffsicherheit und Disziplin. Damit ein Tier so wenig wie möglich leidet, wird ein «Kammerschuss» angestrebt. Dabei tötet der Schuss ein Tier unmittelbar. In den meisten Fällen stirbt das Tier also sofort, doch es kommt vor, dass ein angeschossenes Tier innert wenigen Sekunden eine Fluchtstrecke zurücklegt, bevor es stirbt, der Jäger es aber nicht sofort findet. Dies würde eine Nachsuche auslösen, damit das Tier, oft mit Hilfe von Jagdhunden, schnellstmöglich aufgespürt wird.
Am Ende des Tages wird die Jagd von den Hornbläsern formell «abgeblasen». Die erlegten Tiere liegen nebeneinander auf der «Strecke», geordnet nach Gattung, Geschlecht und Alter. In ihrem «Äser,» Mund, ein «Bruch», der Zweig einer Eiche, Kiefer, Erle, Rot- oder Weisstanne als «letzter Bissen». Dieser symbolisiert Demut vor der Natur, Achtung vor dem Tier und Dankbarkeit für das Schöpfen aus der Natur. Auch auf jedem Tier liegt ein Zweig, dieser «Schützenbruch» wird dem Erleger als formelle Inbesitznahme übergeben. Durch die beiden Brüche werden Mensch und Tier symbolisch verbunden. Zu diesem Zeitpunkt sind die Tiere bereits «aufgebrochen», also ausgeweidet.
In der Abenddämmerung endet die Jagd. Beim gemeinsamen «Schüsseltrieb», einem Abendessen, feiert man die Erfolge des Tages, tauscht Erlebnisse aus – vor allem nach einer anstrengenden Jagd in der Kälte und durch unwegsames Unterholz mit stachligem Brombeerdickicht. Doch es sind genau diese Herausforderungen, welche die gemeinsame Jagd zum besonderen Erlebnis machen. Ob Jägerveteran oder erstmaliger Treiber, alle haben am Erfolg teil, und jeder bleibt
mit einer besonderen Geschichte zurück.
Auch wenn die Jagd bei manchen auf Unverständnis stossen mag, nimmt ihre Beliebtheit international zu, vor allem das Interesse jüngerer Leute wächst. Teils aus Sehnsucht nach Naturverbundenheit, doch immer öfters aus ethischen Gründen. Beispielsweise sogenannte «Jägetarier» (kein offizieller Begriff der Jägersprache!): Menschen, die nur Fleisch von Tieren essen, die sie im Freien selbst erlegt haben – eine Abkehr von der Massentierhaltung. Zum Jägersein gehört ohnehin viel mehr als das Schiessen. Die Jagdprüfung verlangt ein enormes Wissen über Natur, Tiere und Rechtliches, die Grundausbildung dauert mindestens drei Jahre. In der Jagdgesellschaft werden Traditionen gelebt und wird Praxis geübt. Dank ihr profitiereletztendlich alle vom ökologischen Gleichgewicht in unserem Wald – auch die Hundeführer, Joggerinnen und Wanderpärchen.
Jagd und Naturschutz
Viele haben ein einseitiges Bild von Jägern, dabei erfüllen diese übers ganze Jahr wichtige Aufgaben. In erster Linie tragen sie zur Regulierung des Wildbestands bei, um das Gleichgewicht der Tierpopulation aufrechtzuerhalten. Dazu erteilt der Kanton klare Abschussvorgaben, die von den Jagdgesellschaften erfüllt werden müssen. Ein grosser Teil des modernen Wildtiermanagements wird über die Jagd ausgeübt. Nimmt die Wildtierdichte zu, löst dies Druck auf die immer knapper werdenden und intensiv genutzten Lebensräume der Wildtiere aus. Dieser äussert sich in erhöhtem Wildverbiss, Schäden, die Wildtiere an Wald und an landwirtschaftlichen Kulturen anrichten. Zudem breiten sich Krankheiten aus und nehmen Unfälle im Verkehr zu. Was Wildunfälle auf der Strasse betrifft, müssen Jäger jederzeit erreichbar und in der Lage sein, am Unfallort auszuhelfen und leidende Tiere zu erlösen und bergen. Ausserdem engagieren sich Jäger für nachhaltige Jagdpraktiken, ökologische Projekte und für den Schutz von Ökosystemen. Nebst alldem hat die Jagd eine lange Tradition und kulturelle Bedeutung; Jagdgesellschaften tragen zur Pflege dieser Tradition bei.
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