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«Die schulische Integration ist in der Praxis gescheitert»

Von Joël J. Meyer ‒ 16. Februar 2024

Ein überparteiliches Komitee sammelt Unterschriften für die «Volksinitiative für eine Schule mit Zukunft – fördern statt überfordern». Corinne Hoss-Blatter, Mitinitiantin und ehemalige Zolliker Schulpräsidentin, argumentiert im Interview für die Einführung von Förderklassen im integrativen Schulsystem.

(Archivbild)
Die neue Volksinitiative soll Abhilfe im integrativen Schulsystem schaffen. (Archivbild)

Frau Hoss-Blatter, bei einer Abstimmung im Jahr 2005 wurde ein neues Volksschulgesetz und damit die Abschaffung von Kleinklassen mit gut 70 Prozent Ja-Stimmen ­angenommen. Seither nehmen Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten im Sinne der Integration vermehrt am Regelunterricht teil. Laut Umfragen von NZZ und Tamedia verlangt eine grosse Mehrheit nun, dass diese Kinder wieder vom Regelunterricht ausgeschlossen werden. Woher diese Kehrtwende?

Es ist klargeworden, dass der damalige Ansatz eines integrativen Schulsystems nicht funktioniert. Man hat sich schlichtweg zu viel davon erhofft, und dies wurde über die Jahre hinweg immer deutlicher. Mit jedem Klassenübergang verschlimmerte sich das Problem, ­kamen mehr förderungsbedürftige Kinder in die Regelklassen. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem klar wurde, dass der geregelte Unterricht darunter leidet und die grosse Mehrheit der Kinder zu kurz kommt.

Für verhaltensauffällige Kinder gibt es Unterstützung, beispielsweise Schulassistenzen und Schulinseln. Reichen solche Massnahmen nicht aus?

Schulassistenzen sind zwar hilfreich, aber nicht zielführend. Jede weitere Person, die nebst einer Lehrkraft im Klassenzimmer steht, sorgt für Unruhe und einen koordinativen Mehraufwand im Schulbetrieb. Kommt dazu, dass Schulgemeinden die Assistenzen selber finanzieren müssen, sprich, das Thema wird jeweils zur Kosten­frage. Und auch Schulinseln, die vorübergehend eine Klasse entlasten, sind nur kurzfristige Lösungen für ein systemisches Problem.

Wieso ist das Problem systemisch? Für die tatsächlich nicht in Regelklassen integrierbaren Kinder gibt es nach wie vor Sonderschulen, die das integrative System entlasten sollen.

Wenn wir von Integration sprechen, greift das als Lösung zu kurz. Kinder in Sonderschulen haben oft ­keine Möglichkeit, normale Schulkarrieren zu absolvieren. Darum sollen möglichst viele Kinder am Regelunterricht teilnehmen. Dort gibt es für sie aber zu wenig Mittel für adäquate Förderungsmöglichkeiten und gleichzeitig belasten sie den normalen Schulalltag.

Was macht die Bildungspolitik?

Leider nichts. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich hat sich der Situation zwar angenommen, offenbar liegen sogar konkrete ­Vorschläge vor, handelt aber nicht. Darum braucht es endlich Druck aus der Bevölkerung, um das Problem zu lösen. Lehrkräfte, Eltern, Kinder, alle sind überfordert.

Haben Sie das Gefühl, das heutige System werde aus ideologischen Gründen schöngeredet, um eine Rückkehr zu den Kleinklassen zu verhindern?

Das haben Sie richtig auf den Punkt gebracht. Die schulische Integration ist in der Praxis gescheitert. Das ist bedauerlich, aber wir müssen den Tatsachen in die Augen schauen und dringend eine Lösung schaffen.

Und die Lösung der Förderklasseninitiative wäre ein Wechsel zurück zum alten System?

Nein, darum geht es bei dieser Initiative nicht. Integration ist wichtig, muss aber in der Praxis funktionieren. Mit der Einführung von Kleinklassen können Regelklassen effektiv entlastet werden, ohne Kinder in eine Sonderschule zu schicken, wenn das nicht absolut notwendig ist.

Das heisst, die Initiative richtet sich nicht direkt gegen das aktuelle integrative Schulsystem?

Nein, wir wollen nichts bekämpfen, sondern Schulgemeinden eine brauchbare Lösung für ein reales Problem bieten. Förderklassen geben Schulen mehr Möglichkeiten, Integration und Unterricht sinnvoll zu kombinieren.

Diese Möglichkeit besteht doch bereits, gemäss Volksschulgesetz dürfen Gemeinden Kleinklassen führen. Wieso tun sie das denn nicht?

Weil es mit den vorhandenen Mitteln kaum umsetzbar ist. Den Gemeinden stehen für die Volksschulen diverse Ressourcen zur Verfügung, in diesem Fall geht es um Vollzeiteinheiten, sogenannten VZE. Diese spricht der Kanton den Gemeinden nach einem speziellen Schlüssel zu, der etwa Schülerzahlen und Sozialindex berücksichtigt. Zusätzliche Ressourcen werden für Schülerinnen und Schüler gesprochen, die in einem ISR-Setting sind, also in der integrierten Sonderschulung in der Verantwortung der Regelklasse. Wenn diese Kinder nicht in der Regelklasse, sondern in einer Förderklasse unterrichtet werden, streicht der Kanton diese personellen Ressourcen. So werden die Gemeinden vom Kanton eigentlich diszipliniert und der Spielraum ist eben nicht gegeben. Es braucht einen flexiblen Mitteleinsatz, das wollen wir mit unserer Initiative erreichen.

Was fordert die Initiative also ­konkret?

Ebendiese benötigten Mittel für heilpädagogisch geführte Förderklassen, damit alle Kinder im Kanton bei Bedarf dazu Zugang haben und der Regelunterricht entlastet wird. Diese Klassen sollen auch nur vorübergehend besucht werden können und die Rückkehr in eine Regelklasse muss immer möglich bleiben. So stellen wir bedürfnisgerechten Unterricht für alle und gleichzeitig eine pragmatische Integration sicher.

Wie sehen Sie die Chancen Ihrer Initiative?

Ich bin überzeugt, dass wir bis Juli die 6’000 Unterschriften sammeln und die Initiative zustande kommt. Unser Initiativkomitee ist über verschiedene Parteien breit abgestützt und es sind viele schulnahe Personen involviert. Es ist überhaupt ein Thema, das die ganze Schweiz bewegt. Wer nur schon ein bisschen etwas vom Schulbetrieb versteht, stimmt unserer Initiative zu.

FDP-Kantonsrätin Corinne Hoss-Blatter ist Kommissionspräsidentin der Kantonalen Maturitäts­schule für Erwachsene, Mitglied der Kommission der Berufsmaturitätsschule und im Stiftungsrat der Juventus Schulen. Sie wirkte 2006 bis 2022 in der Zolliker Schulpflege, ab 2014 als deren Präsidentin und gleichzeitig als Gemeinderätin.

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