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Das freie Wort als Akt des Widerstands

Von Aline Sloksnath ‒ 22. März 2024

Warum, Herr Schischkin, veröffentlichen Sie Ihr Buch «Frieden oder Krieg» nicht in Russland? «Weil es kompliziert ist.»

Der russische Autor Michail Schischkin (l.) und der Zolliker Matthias von Baussnern kennen sich seit langer Zeit. (Bild: asl)
Der russische Autor Michail Schischkin (l.) und der Zolliker Matthias von Baussnern kennen sich seit langer Zeit. (Bild: asl)

Rund 200 Gäste sind der Einladung des Zolliker Kulturkreises letzte Woche in den Gemeindesaal gefolgt. Michail Schischkin, einer der Grossen der russischen Gegenwartsliteratur, war an diesem Abend geladen. Schon vor Beginn der Lesung war die Stimmung in den Rängen ruhig, bedacht. Jedem und jeder war klar, ein Besuch auf dem Ponyhof wird dieser Literaturabend nicht. Als der Autor mit ­Moderator Matthias von Baussnern (Vorstandsmitglied Kulturkreis) die Bühne betritt, wird zwischen den Reihen noch gemurmelt. Nach der Begrüssung verstummt das Publikum. Bis zur Fragerunde am Schluss ist nebst vereinzeltem Räuspern kein Wort zu hören.

«Ich würde gerne über Literatur sprechen, aber wir sind im Krieg», eröffnet der russische Schriftsteller und Putin-Gegner seine Lesung. Aus seinen Romanen wird er nicht lesen. Die Literatur kommt an diesem Abend zu kurz – der Krieg nicht. «Offiziell gibt es in Russland keine Todesstrafe. Doch sie existiert, hier ist sie, und das ist erst der Anfang.» Der Essay erschien einen Tag nach dem Tod von Alexey ­Nawalny im digitalen Magazin «Republik». Michail Schischkin liest einen Auszug und setzt damit den Tonfall für den restlichen Abend. Nichts wird schöngeredet, was nicht schöngeredet werden kann.

Würde Tolstoi schweigen?

Was würden die grossen Literaten Russlands tun, würden sie heute ­leben, fragt er sich im zweiten Text «Schuld ohne Sühne». Und was macht Schweigen mit der Kultur? Der Autor ist sicher, weder Tolstoi noch Joseph Brodsky hätten geschwiegen – anders, als es das russische Volk aktuell tut, vielleicht tun muss. Doch wo verläuft die Trennlinie zwischen Schutzschweigen und Niedertracht, fragt er sich. «Dem Schweigen lässt sich nur das Wort entgegensetzen. Das freie Wort ist schon ein Akt des ­Widerstands. In Russland kann man entweder patriotische Lieder singen oder schweigen. Oder emigrieren.» Er selbst wohnt seit dreissig Jahren in der Schweiz. Und schweigt nicht – das wird an diesem Abend mehr als deutlich.

Michail Schischkin und Matthias von Baussnern kennen sich schon lange. Auf der Bühne herrscht eine vertraute Dynamik. Die braucht es für dieses Thema. Er sei schon etwas nervös gewesen, erzählt der Gastgeber ein paar Tage nach der Lesung. «Doch es gibt wenige, die so ehrlich und offen, aber auch zerrissen schreiben können.» Er hat Michail Schischkins Texte gekürzt, damit das Publikum möglichst viel von der Arbeit des Schriftstellers mitbekommt.

Der Autor selbst könne das nicht, er scherzt: «Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind und müssen ihm einen Finger abschneiden. Das geht nicht.» Ein makabrer Scherz, der dennoch guttut. Trotz der inhaltlichen Schwere wird immer wieder gelacht – wohltuend, das merkt man den Anwesenden an.

Kontra sogenannter ­Russlandexperten

Zum Abschluss liest Michail Schischkin aus seinem Buch «Frieden oder Krieg». Darin teilen er und der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen ihre Eindrücke über die Dynamiken zwischen Russland und dem Westen. Wie es zu diesem Buch gekommen ist? Er habe in den letzten Jahren versucht, die Bücher sogenannter Russlandexperten zu lesen. «Das ist nicht möglich, denn diese Autoren verstehen Russland nicht.» Was sie schreiben, bilde die Grundlage für die Politik. «Dank diesen sind wir jetzt in dieser Katastrophe.» Darum wollte er Russland aus seiner Sicht erklären. Erschienen ist das Buch 2019, fünf Jahre nach der Annexion der Krim, drei Jahre vor dem grossen Angriffskrieg. Die letzten beiden Kapitel heissen «Futur I» und «Futur II». Heute müsste man sie wohl in «Präsens» umbenennen.

Die gelesenen Passagen erzählen von Peter dem Grossen, vom Leben nach der Februarrevolution 1917 und von der Machtergreifung der Bolschewiki. Michail Schischkin schreibt über Propaganda und Protest, über Heimat und Fremde; er schreibt von heute und zwischen den Zeilen wohl leider auch von morgen. Seine Worte treffen. Doch treffen sie die Richtigen? «Ist das Buch auch ins Russische übersetzt worden?», will ein Zuschauer wissen. Die Antwort mag überraschen: «Nein, ich habe das Buch auf Deutsch geschrieben, für den westlichen Leser.» Für die Russen müsste man anders schreiben. «Wir ­befinden uns im Bürgerkrieg. Für die Leute auf Putins Seite bin ich ein Feind. Egal was ich schreibe, sie werden mich nicht lesen.» In Russland wird die Geschichte neu geschrieben, neu interpretiert, instrumentalisiert. Seine Sicht müsse doch in Russland gelesen werden, insistiert jemand aus dem Publikum. «Sie stellen sich die Situation nicht vor», antwortet der Autor. Welcher «Wahrheit» glauben die ­Eltern eines gefallenen russischen Soldaten wohl? «Ihr Sohn war ein Held» oder «Ihr Sohn war ein Faschist»?

Die Zuhörerinnen und Zuhörer verweilen noch lange nach dem letzten Wort auf der Bühne, im Foyer ­befragen sie Michail Schischkin, hören zu. Hören wir andächtig zu, schweigen wir. Doch – diese Behauptung wage ich – wird dieser Abend an den Küchentischen in Zollikon noch an manchen Tagen für Gesprächsstoff sorgen.

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